In den derzeitigen Diskussionen über die Wiedervereinigung, vor allem über die Frage, inwieweit der Prozess der Vereinigung bisher erfolgreich war, taucht immer wieder der Begriff der Disparität zwischen den neuen und den alten Bundesländern auf. Auf der westlichen Seite stößt man dabei auf Unverständnis und eine gewisse selbstzufriedene Gleichgültigkeit (haben wir nicht alles getan, um der maroden Wirtschaft auf die Beine zu helfen?), auf der östlichen Seite ist eher ein Gefühl der Unzufriedenheit und einer verhaltenen Verbitterung zu spüren. Es besteht bei nicht Wenigen das Gefühl des Unverstanden-Seins, des nicht Dazugehörens, der fehlenden Würdigung hinsichtlich ihres bisherigen Werdegangs und ihrer eigenen Lebensleistung.

In den frühen 80-iger Jahren dachte noch niemand an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung. Zu gegensätzlich waren die politischen Systeme, zu ausgeprägt und rigide das Block-Denken auf beiden Seiten. In dieser Zeit begann ich mit alljährlichen Vortragsreisen zu den dortigen Universitäten. Die Beweggründe, die mich dazu veranlassten, waren zum einen Neugier, die politischen Verhältnisse in der damalige DDR über das Maß des medienvermittelten Hören-Sagens hinaus kennen zu lernen, zum anderen war ich beseelt von dem Gedanken, brückenbildende Kontakte zu knüpfen. Meine Ziele waren die Menschen in den Universitäten: Berlin, Halle, Dresden, Greifswald und Rostock. Noch heute bin ich Herrn Professor Dr. Wolf von der Charité dankbar, der mir half, die verschiedenen Kontakte herzustellen.

Es waren elementare und durchaus befremdliche Erfahrungen soweit es das totalitäre kommunistische System betraf. Deutlich spürte ich die Unmittelbarkeit einer ständigen Überwachung, einer allgegenwärtigen Kontrolle. Politische Äußerungen erfolgten, auch im privaten Umfeld, stets vorsichtig, unter vorgehaltener Hand. Unangenehm empfand ich auch die unüberhörbare, martialische Propaganda, gerichtet gegen das westliche kapitalistische System mit der Betonung einer ständigen existentiellen Bedrohung. Das war eine prägende Erfahrung. Ich erfuhr jedoch noch etwas ganz Anderes.
Ich lernte eine Gesellschaft kennen, die unter der Decke einer ständigen politischen Überwachung und lähmenden Bevormundung eine Form der Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft generiert hatte, wie ich sie vom Westen in dieser Form nicht kannte. Über das staatlich organisierte Sozialwesen hinaus war ein Zusammenhalt auf der Ebene privater Vertrauensbildung und aufrichtiger Solidarität unverkennbar. Im Schatten des politischen Würgegriffs hatte sich eine besondere Form des menschlichen Miteinanders Raum verschafft. Eine Erfahrung, die mich nachdenklich machte.

Vor dem Hintergrund solch nachhaltig prägender Eindrücke war ich mehr und mehr davon überzeugt, dass im Falle einer Wiedervereinigung beide Seiten von einander profitieren würden: der Osten von einer wieder gewonnenen Freiheit und einer allgemeinen wirtschaftlichen Belebung, der Westen von einer Rückbesinnung auf elementar menschliche Werte, auf Verhaltensweisen, die dem Miteinander förderlich sind und von einem Bewusstsein gegen den um sich greifenden, den Geist zum Schweigen bringenden Konsum.

Es kam jedoch anders. 1989 fiel die Mauer (diese Formulierung ist irreführend, weil zu kurz, so, als ob es ein Naturereignis gewesen wäre. Es waren vielmehr die Geduld, der Wille und die Standhaftigkeit des Volkes, den langwierigen, gewaltlosen Weg zur Freiheit zu beschreiten. Im Hintergrund war es Gorbatschow, der es geschehen ließ). Jeder konnte miterleben, was es bedeutet, wenn sich Fesseln lösen, wenn sich Freiheit Bahn bricht. Endlich frei! Es waren überwältigende Augenblicke! Die großen Gefühle der unerwarteten Befreiung überstrahlten alles; die Bilder der ersten Tage bleiben unvergessen. Es war nicht die Zeit rationaler Überlegungen und weitblickender Planungen. Es war die Zeit entfesselter Emotionen. Viele Bürger im Osten, vor allem diejenigen in den grenznahen Gebieten, hatten nur ein Ziel: endlich Freiheit spüren, sie riechen und fühlen; sie folgten dem Drang in den Westen, den Unrechtsstaat, die Mauer und die Sperrzäune hinter sich lassend.

Immer wieder war dieser Gedanke erwogen und dann doch beiseitegeschoben worden. Vieles hatte man vom Westen gehört, von Freiheit und Wohlstand; man hörte heimlich westliche Sender, es kursierten westliche Journale und Schriften, doch ständig versuchte die staatliche Propaganda, den westlichen Kapitalismus zu verunglimpfen und die eigenen Vorzüge machtvoll zu behaupten. In dieser bedrückenden Situation entstand ein stiller, gedrückter, innerer Widerstand und die Vorstellung von der ersehnten Freiheit weitete sich zu einem unerfüllbaren Traum. Noch lange nach der Wende hielt dieser Trend an: viele zog es in den Westen; viele sehnten sich nach der Freiheit und fühlten sich von ihr herausgefordert, das eigene Leben gestaltend in die Hand zu nehmen. Es reizte sie verständlicher Weise, am wirtschaftlichen Wohlergehen Teil zu haben.

Die Wende bewirkte schnelle Veränderungen in den östlichen Ländern. Viele Betriebe und ganze Industriezweige wurden zahlungsunfähig; sie stellten ihre Arbeit ein. Die politischen Strukturen und das staatliche Sozialsystem hörten auf zu existieren, Bei der unmittelbar entstehenden und um sich greifenden Arbeits- und Mittellosigkeit mutierte die gewonnene Freiheit schnell schon zu einer bis heute fortbestehenden Verbitterung. Der Westen blieb im Wesentlichen unbeeindruckt, immerhin fühlte er sich in der Rolle des „Heilsbringers“. Und eben das verstärkte den Eindruck des „Gutmenschen“ auf der einen und des „Verlierers“ auf der anderen Seite. Es wurden „blühende Landschaften“ versprochen. Damit war klar: es ging um materielle Erneuerung, um wirtschaftliche Subvention; es ging um Kapital, es ging nicht um den Menschen.

In der Tat: Die Ostländer, oder wie sie sehr bald schon bezeichnet wurden, die neuen Bundesländer, wurden regelrecht vereinnahmt, vom Westen überrollt. Finanzhaie, Wirtschaftsprofiteure und Immobilienspekulanten fielen über die Ostgebiete her, sie infiltrierten das Land mit kapitalistischem Gedankengut und Machenschaften, Führungs-positionen wurden ausgetauscht, Ordinariate und Dekanate an Universitäten wurden mit rabiater Entschlossenheit mit westlichen Akademikern besetzt, ganze Industrie- und Wirtschaftsbetriebe wurden geschlossen; die Treuhand leistete dabei für die Ostbevölkerung beklemmend nachteilige Schützenhilfe. Ganze Bevölkerungsschichten fühlten sich überrumpelt, übertölpelt, ja geradezu entmannt. Ihr ganzer bisheriger Lebensinhalt löste sich mit einem Mal in Wohlgefallen auf. Sie verloren ihre wirtschaftliche Basis, sie verloren ihren Lebenssinn, sie verloren ihre Identität, sie wurden zu Fremden im eigenen Land.

Man wird sich von dem Gedanken nicht frei machen können, dass im Rahmen der vom Westen ergriffenen Maßnahmen große Traumatisierungen entstanden sind, die auch heute noch nicht ganz verheilt sind, verheilt sein können. Ja, es war ein Unrechtsstaat, unter dem die Menschen zu leiden hatten, doch die „Friedensbringer“ aus dem Westen wurden keineswegs immer als Erlöser erlebt; sehr oft hatten sie etwas Befremdliches. Sie erlebten eine Art von Freiheit, die so anders war als die, von der sie geträumt hatten. Man muss allerdings bedenken, dass Träume immer wieder ins Wanken geraten, wenn sie mit der Realität konfrontiert werden. So kommt es, dass in rückblickender Beurteilung der Eine mehr von der Realität, der Andere mehr vom Traum geleitet wird. So mag es aus wirtschaftlichen Erwägungen gerechtfertigt sein, auch heute noch Lohn und Rente unterschiedlich zu bemessen, doch im Wissen der vielfältigen Traumatisierungen ist diese Handhabung Ausdruck fehlender Sensibilität. Man darf sich nicht wundern, dass das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, in den östlichen Ländern auch weiterhin Nahrung findet.
Nach nunmehr 30 Jahren blickt man auf eine Entwicklung zurück in der Hoffnung, dass zusammengewachsen ist, was zusammen gehört. Man stellt jedoch fest, dass dies nicht in dem Maße erfolgt ist, wie man es erwartet hatte. Es ist viel Geld geflossen, die Städte sind ansehnlich renoviert, die Verkehrswege in gutem Zustand, bewundernswert ist die substanzielle Erneuerung. Wie aber sind die gesellschaftlichen Bemühungen zu bewerten? Viele der engagierten Bürger haben ihre Heimat im Osten verlassen, um im Westen beruflich Fuß zu fassen, nachdem die Arbeitsmöglichkeiten im Osten zu wünschen übrig lassen. Keiner der DAX-Konzerne hat seine Zentrale im Osten, die maßgeblichen staatlichen Institutionen sind im Westen angesiedelt, die wirtschaftlichen Investitionen beleben sich nur zögerlich, die Menschen im Osten müssen das Gefühl haben, in Vorgärten der Bundesrepublik zu leben. Auf die unterschiedliche Handhabung von Lohn und Rente wurde bereits hingewiesen. Materiell sind viele Dinge auf den Weg gebracht, gesellschatlich jedoch ist vieles im Verzug.

In groben Zügen ist das die Geschichte der Wiedervereinigung. Man muss sich jedoch die Mühe machen, auf einige Zusammenhänge gesondert einzugehen. So ist man etwa Immer wieder darüber verwundert, dass die Fremdenfeindlichkeit in den Ostländern besonders ausgeprägt zu sein scheint, obwohl sie im Vergleich zu den alten Bundes-ländern weit weniger mit den Problemen der Migration konfrontiert wurden. Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass der Osten gegenüber dem rechtsextremistischen Gedankengut empfänglicher ist als der Westen. Man muss mit der Analyse vorsichtig sein, um nicht mit falschen Annahmen und Erklärungsversuchen oder gar mit Schuld-zuweisungen das politische Meinungsprofil noch weiter zu belasten.

Die einfache Feststellung, dass sich das Leben der Menschen im Osten vor dem Mauerfall von demjenigen im Westen unterschieden hat, reicht nicht aus, um die besonderen Lebensverhältnisse im Osten zu verstehen. Es war ein totalitäres System mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Die Menschen dort lebten unter einem ständigen Schirm der Überwachung und der Kontrolle. Im Westen waren die Menschen frei hinsichtlich Lebensplanung und Lebensgestaltung. Dies allerdings ist kein Grund, sich überlegen zu fühlen. Es war keine Frage der Entscheidung, hier oder dort zu leben. Die unerwartete Wende bedeutete für die Menschen auf beiden Seiten eine Art der Entfesselung; für den Osten die Freiheit aus dem Würgegriff der demütigenden Kontrolle, für den Westen der Run auf wirtschaftliche Vorteilsnahme.
Ein fremdes, ungewohntes Gedankengut, zwar lange erträumt doch keineswegs auf Erfahrung gegründet, brach über den Osten herein. Das Fremde erlebten Viele als Verlust und Einbuße. Es hinterließ tiefe Spuren der Abwehr und der Verbitterung. Es war nicht das im Westen so belastende Migrationsproblem, welches das Gefühl der Verfremdung vermittelte, sondern die bis heute spürbare wirtschaftliche Bevormundung durch den Westen. Es wundert nicht, dass sich diese Verbitterung in Form einer Protesthaltung Luft verschafft. Dass nun die AFD diesen Nährboden nutzt, um ihre eigenen Interessen zur Geltung zu bringen, ist nichts anderes als ein verwegenes, wenngleich, wie man sieht, erfolgreiches politisches Ansinnen. Die bürgerlichen Parteien sehen sich mit dem Problem und letztendlich mit der Frage konfrontiert, wie mit dem Sammeltopf aus Pro-test und ideologischer Verblendung bzw. ideologisch geleiteter Aggression umgegangen werden soll. Im Vordergrund müssen die Bemühungen erkennbar sein, das Gefühl des Gemeinsamen zu stärken, dem aus der Geberrolle heraus entstandenen Eindruck der Überheblichkeit des Westens gegenüber dem Osten entgegen zu wirken und eine Gleich-behandlung aller Bürger zu gewährleisten. Solange die Ungleichheit im Lohn- und Rentensektor fortbesteht, gärt unterschwellig das Gefühl, nicht dazu zu gehören bzw. Bürger zweiter Klasse zu sein.

Diese Gefühle sind ernst zu nehmen. Vordergründig mögen die noch bestehenden pekuniären Differenzen unerheblich sein. Bedenkt man aber, dass jeder Bürger im Osten auf einen jeweils eigenen Lebensentwurf mit entsprechender Sinndeutung zurückblickt, dann resultiert aus der noch bestehenden Ungleichheit eine grundsätzliche Infrage-stellung der bisherigen Lebensleistung. Es sind oft kleine Dinge, die unmerklich große Spuren hinterlassen. Diese Spuren bedeuten in diesem Fall einen von außen kommen-den Einbruch in das Selbstwertgefühl der Menschen. Dieses „von Außen“ wird als fremd empfunden und bewirkt latente Abkehr und Ablehnung, ein Gefühl des nicht ganz ernst genommen zu werdens.

Kein Zweifel besteht daran, dass die DDR, entgegen der konsequenten Verneinung von Gregor Gysi, ein Unrechtstaat war. Bedauerlich ist die gefühlsmäßige Projektion auf die Bürger, die in diesem Unrechtsstaat leben mussten. Die Vorstellung, dass die Menschen im Westen auf Grund der ihnen zugestandenen Freiheit denjenigen im Osten überlegen waren, ist verwegen. Als ob der Westen etwas besessen und damit den Bürgern im Osten zu geben gehabt hätten, was denen während der DDR-Zeit vorenthalten wurde, nämlich die Freiheit. Der Westen hatte keinen Grund, sich als Heilsbringer zu fühlen. Es waren die Menschen im Osten, die sich gegen alle äußeren Widerstände um eine innere Freiheit bemüht hatten mit der Konsequenz einer dort erlebbaren Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Schließlich waren sie es, die in einer gewaltlosen Revolution das Sys-tem der äußeren Unfreiheit zu Fall gebracht haben. In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, inwieweit im westlichen Kapitalismus der Unterschied zwischen innerer und äußerer Freiheit überhaupt noch bewusst ist.

Das mit dem Mauerfall unvermittelte Zusammentreffen zweier ganz unterschiedlicher Lebensformen gab Anlass, das unerwartete und nicht für möglich gehaltene Ereignis zu feiern und das zu Recht! Die große Freude über die gewaltlos erreichte Veränderung der Lebensbedingungen im Osten überstrahlte alles. Die sich aus der Wiedervereinigung ergebenden Konsequenzen waren zu diesem Zeitpunkt kaum erkennbar und sie werden auch heute, nach 30 Jahren, nicht in der gebotenen Form wahrgenommen. Im Vorder-grund stehen auch heute noch vor allem materielle und wirtschaftliche Gesichtspunkte („blühende Gärten“), wobei wichtige Impulse und grundsätzliche Entscheidungen hin-sichtlich politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen weiterhin dem Westen vorbehalten sind, nach dem Motto: „wer zahlt, schafft an“. Die Befindlichkeiten des bzw. der Menschen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Es fehlt das Bewusstsein für die Probleme, die allein schon durch den Umstand, das Leben in der gewonnenen Freiheit neu zu gestalten, begründet sind. Nicht zu vergessen sind die sozialen und strukturellen Veränderungen, die den Menschen manche Bürde auferlegten. Die individuellen Aspekte, der Geist der Zusammengehörigkeit, die Sensibilität gegenüber den menschlichen Problemen blieben weitgehend im Schatten materieller Anstrengungen.

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen waren nichts anderes als ein Beleg für eine Entwicklung, die zwar anhand der Beobachtungen und Erfahrungen zu erwarten waren, die aber doch mit einiger Verwunderung aufgenommen wurden. Die AFD hat in allen drei Ländern einen beträchtlichen Stimmenzuwachs erhalten, während die bürgerlichen Parteien deutliche Verluste hinnehmen mussten. Das Wahlergebnis der AFD gibt Rätsel auf; waren es Protestwähler oder über-zeugte Extremisten? Wie sind die jeweiligen Anteile einzuschätzen? Keine der Parteien will mit der AFD koalieren. Wie aber eine tragfähige Regierung bilden.? Wie ist überhaupt mit dieser immerhin demokratisch gewählten Partei umzugehen? Die strikte Abschottung gegenüber den Extremisten und Nationalisten erscheint aus moralischer Sicht verständlich zumal Letztere eindeutig antidemokratische und damit verfassungs-widrige Tendenzen erkennen lassen. Was aber wird aus den Protestwählern? Werden sie bei konsequenter Kontaktvermeidung nicht in die rechte Ecke gedrängt? Erführe ihr Protest dadurch nicht weitere Rechtfertigung und gäbe man dem Rechtsextremismus dadurch nicht weiteren Auftrieb?
Einer Gefahr begegnet man nicht, dadurch, dass man sie negiert bzw. sich demonstrativ verweigert. Man muss ihr uns Auge sehen, sich mit ihr streitig auseinandersetzen und sie mit den eigenen Werten und Überzeugungen konfrontieren. Immerhin handelt es sich um ein Problem, welches im gesamten Bundesgebiet immer deutlicher zutage tritt. Umso wichtiger ist es, dem Anteil der Protestwähler vor allem in den östlichen Ländern durch eine veränderte Politik den Boden zu entziehen. Protest ist stets eine Reaktion auf politische Entwicklungen, die mit fehlender Sensibilität in eine Schieflage geraten. Man muss solche Entwicklungen ernst nehmen und entsprechende Konsequenzen ziehen.

Bei der Wiedervereinigung trafen Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen, mit ganz unterschiedlichen, systemabhängigen Lebenserfahrungen aufeinander. Den Menschen im Westen war es vergönnt, vor dem Hintergrund persönlicher Freiheit und weitreichender Eigenverantwortung, die Lebensziele selbst zu definieren und deren Umsetzung engagiert zu betreiben. Dabei rückten mehr und mehr materielle Gesichts-punkte ins Zentrum der individuellen Bemühungen. Die Gesellschaft frönte der Ideologie des ständigen wirtschaftlichen Wachstums. Das Äußere dominierte zunehmend das Innere. Das Verständnis von Freiheit veränderte sich. Der eigentliche „feste Aggregat-zustand“ der Freiheit gewährleistet eine Form von Mitmenschlichkeit, Verantwortung und Hilfsbereitschaft. Dieser Zustand scheint sich mehr und mehr zu „verflüssigen“, formlos zu werden, eigennützig, beliebig, entwurzelt und selbstherrlich.

Bei den Menschen im Osten waren die Gestaltungsmöglichleiten begrenzt. In der täglichen Auseinandersetzung mit den knebelnden Mechanismen eines totalitären Systems ging es zunächst darum, den Lebensunterhalt zu sichern. Die fehlende Freiheit, die eingeschränkten Möglichkeiten sowie die psychischen Belastungen durch die all-gegenwärtige, bedrückende politische Enge förderten den gesellschaftlichen Zusammen-halt; man rückte zusammen. Die Menschen fühlten sich eingeengt, doch in dieser äußeren Trübsal waren sie genötigt, Räume der inneren Freiheit zu schaffen und sich auf das zu besinnen, was das Leben im Inneren zusammenhält und es schließlich lebens-wert macht. Dass eine friedliche Revolution möglich war, ist Ausdruck und Beleg zu-gleich für dieses nach innen gerückte Lebensverständnis.

Und dann trafen sie aufeinander, zwei unterschiedliche „Aggregatzustände“ der Freiheit. Aus der Sicht des Ostens überflügelten die Emotionen des Augenblicks jede Form einer einsichtigen Rationalität: plötzlich Freiheit im Außen, von der man lange Zeit geträumt hatte. Endlich war es möglich, zu sagen: „Ich will“! Viele von ihnen begannen das umzusetzen, mit dem Willen, endlich das eigene Leben zu gestalten. Viele von ihnen schafften es, obgleich es nicht einfach war und ist, sich in der Freiheit zu bewähren. Wenige fühlten sich überfordert und mit manchem Unverständnis nahm man ihr Sehnen, zurück zu den frühren „geregelten“ Verhältnissen zur Kenntnis.

Die im Osten Zurückgebliebenen erlebten mit der Wiedervereinigung den „Überfall“ aus dem Westen durch ein hereinbrechendes, für sie befremdliches Freiheitsverständnis. Das Materielle dominierte das Geistige und bedrängte die Gewohnheiten des Alltäglichen. Es entstand das Gefühl der Unterlegenheit und vor dem Hintergrund der vereinnahmenden Kräfte fühlten sie ihr ganzes bisheriges Leben in Frage gestellt. Diese Zeit mussten die Menschen im Osten als Bedrohung ihrer Existenz erleben. Das Gefühl der Bedrohung aber hinterlässt Spuren auch in Zeiten wirtschaftlicher Enge und zeigt lange und beharrlich ihre lähmende Wirkung. Menschen zweiter Klasse! Die offen-sichtliche und immer wieder demonstrierte Bedürftigkeit der Bürger im Osten war geradezu geeignet, diese Gefühle zu verstärken.

Im Rahmen der Wiedervereinigung trafen zwei unterschiedliche Welten zusammen. Im Besitz wirtschaftlicher Bonität und großzügiger Freiheitsrechte entstand im Westen das Gefühl der Überlegenheit. Das Wissen um das im Osten herrschende Unrechtssystem wurde unterschwellig auf die dort lebenden Menschen projiziert, was den Eindruck, in allen Bereichen der Gebende zu sein, noch verstärkte. Die großen Möglichkeiten der äußeren Freiheit machten blind gegenüber den kleinen Gesten der Hilfsbereitschaft, des Mitgefühls, der persönlichen Verantwortungsbereitschaft, der Menschlichkeit. Es wäre wünschenswert gewesen, dass der Geist der inneren Freiheit ein wenig auf den Westen ausgestrahlt hätte. Der Staat dort lebte das Unrecht, nicht die Bürger. Sie waren es, die zur gewaltlosen Revolution fähig waren.
Die Regierung im Westen verordnete mit dem „Soli“ wirtschaftliche bzw. materielle Hilfe. Das war notwendig und richtig. Geknüpft an diesen Beschluss war das Versprechen einer zeitlichen Begrenzung. Der Umstand, dass dieses Versprechen nur zögerlich und eben nicht ganz eingehalten wird, zeigt, dass das ausschließlich materiell ausgerichtete Denken wesentliche Werte aus dem Auge verliert, in diesem Fall Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit. Es ist jener Mangel an Sensibilität, der den ganzen Prozess der Wiedervereinigung begleitete. Es war gutgemeint, von blühenden Gärten zu sprechen. In den Hintergrund geriet dabei der Mensch, weil es nicht Gärten für die dort lebenden Menschen wurden sondern Vorgärten westlicher Beanspruchung.

Das nicht eingehaltene Versprechen, den „Soli“ zeitlich zu begrenzen, vielmehr das Geld für andere Zwecke einzusetzen, belegt die Gesinnung einer materialistisch ausgerichteten Politik. Es geht dabei nicht um Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sondern um bilanzierende Kalkulationen auf Kosten von Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Angesichts der großen Probleme mit rechtsextremem Gedankengut – vor allem im Osten – wäre eine vertrauensbildende Politik des Westens von größter Wichtigkeit! Dies gilt für alle Bereiche innerdeutscher Politik!