Es ist eine Naturkatastrophe, eine weltweite Pandemie; wir haben uns mit ihr ausein-ander zu setzen. Die Krankheit, die den Menschen befällt wurde zunächst leichtfertig unterschätzt. Sie entpuppte sich schließlich als eine ernstzunehmende Erkrankung mit schweren Krankheitsverläufen und einer nicht geringen Sterblichkeit – in Deutschland zwischen 500 und 1000 Toten täglich. Die verzweifelten Zustände in den Kliniken und Krematorien von Italien, New York und Portugal u.a. hat jeder vor Augen. Das erste, was schließlich jeden beunruhigen muss, ist der Umstand, dass nicht Wenige die Existenz des die Krankheit verursachenden Virus leugnen und dass nicht Wenige als Verschwö-rungstheoretiker die Ursache der Pandemie eigenwillig missdeuten. Der Grund ihres Verhaltens liegt ganz offensichtlich in ihrer grundsätzlichen Überzeugung, sich von nichts und niemandem beherrschen lassen zu wollen und mit dieser Haltung zu einer allgemeinen Verwirrung beizutragen. Verstärkt wird dieses Verhalten durch die grundsätzliche Ablehnung, der von der Politik ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheitsausbreitung. Dass dieser Protest mitunter militante Züge annimmt und sich mit anderen extremistischen Bewegungen verbrüdert, liegt in ihrer Verblendung, die bereit ist, Fakten zu ignorieren, um ihrer Selbstdarstellung willen. Die intellektuellen Defizite und der Mutwille ihres demonstrativen Verhaltens machen sie unangreifbar und unbelehrbar.

Der Politik obliegt die Aufgabe, angemessene Maßnahmen zum Schutz der Bürger vor Krankheit und anderweitiger Gefahren zu ergreifen. Zunächst geht es nicht darum, die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Maßnahmen zu hinterfragen. Lassen wir es zunächst dabei, es gibt sie, diese Maßnahmen. Die Maßnahmen zielen darauf ab, der endemischen Aus-breitung des Virus entgegenzuwirken und die Gesundheit des Einzelnen zu schützen. Jede dieser Maßnahmen beeinträchtigt zwangsläufig das öffentliche Leben. Jeder Kampf mit den Urgewalten der Natur erfordert Opfer! Im Zusammenhang mit einer Pandemie sind es in erster Linie die Erkrankten und die krankheitsbedingt Sterbenden. Nachdem das Leben in all seinen Formen das höchste Gut darstellt, muss es so weit als möglich geschützt werden. Nach allgemeinem gesellschaftlichem Konsens hat dies nicht zuletzt in einer Pandemie höchste Priorität. Um dieses Ziel zu erreichen bedarf es eines solidaren Bewusstseins und einer, auf dieses Bewusstsein gründenden Opfer- und Verzichtbereitschaft. Es geht demzufolge um Opfer, die von der Gemeinschaft im Sinne einer Selbstdisziplinierung und Selbstbeschränkung aufzubringen sind, um jene Opfer, für die die Pandemie eine Lebenslimitierung oder gar den Tod bedeuten, zu vermeiden.

Was sich am Anfang wie eine Selbstverständlichkeit darstellt, offenbart bei fortschrei-tender Pandemie ein nicht unerhebliches Konfliktpotential: Opfer als Selbstbeschränk-ung auf der einen und krankheitsbedingte Pandemie-Opfer auf der anderen Seite. Immer wieder sind es Emotionalität und Irrationalität, die diesen Konflikt bewusst oder unbe-wusst befeuern.

Unabhängig von allen Fragen, die sich heute im Zusammenhang mit Corona stellen, muss die Rolle der Politik eingehender beleuchtet werden. Wie überall in demokratisch geführten Staaten werden die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz und zum Wohl des Staates und der Bürger von der Regierung getroffen, im Parlament beschlossen und gemeinsam mit den Regierungsparteien und der Opposition auf den Weg gebracht. Jede politische Entscheidung, sei es in Fragen der Sicherheit, der Ökonomie, der Finanzen, der Ökologie und des Sozialen erfordert Weitblick und eine umsichtige Bewertung der aktuellen Gegebenheiten. Solche Entscheidungen fußen auf rationalen, nachprüfbaren und berechenbaren Überlegungen, sodass grundsätzlich Planbarkeit gegeben ist. Nun aber steht die Regierung vor der Aufgabe, Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie zu treffen, deren Aktions- und Ausbreitungsmechanismen zunächst unbe-kannt sind. Erst nach und nach lässt sich die Gefährlichkeit des verursachenden Virus einschätzen und seine Wirkungsweise eingehender verstehen. In solchen Situationen der Unwägbarkeit ist nur ein „Fahren auf Sicht“ möglich. Es ist ein Herantasten an die sich stets verändernden Gegebenheiten und ein Nachtarieren entsprechend der gewonnenen Erkenntnisse. Wie in jedem dynamischen und eigengesetzlichen Prozess ist eine verlässliche Planbarkeit nicht möglich. Es ist für die Politik kein einfaches Unterfangen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, zumal erst die Zukunft über den Grad der Richtigkeit entscheidet. Die zu treffenden Maßnahmen bedeuten für die Bürger Einschränkungen in vielfältiger Weise: Soziale Kontakte, wirtschaftlich durch Beschränkung der Erwerbsmöglichkeiten, Begrenzung der Mobilität, kulturell durch Kontaktverbote. Es entstehen Not und Entsagen auf beiden Seiten:

Die eine Seite der Not betrifft die Erkrankten und die Sterbenden. Lange Zeit wurden an die tausend Tote täglich gezählt und zahlreiche schwere Krankheitsverläufe mit lang an-haltenden Spätfolgen. Für Viele also geht es um die Frage: Leben, Versehrtheit oder Tod. Auf der anderen Seite führen die getroffenen Maßnahmen zu immer schmerzlicheren finanziellen und wirtschaftlichen Einbußen, die für viele Personen, Selbständige und ganze Wirtschaftszweige ein kaum zu beherrschendes existenzielles Problem darstellen. Als bedrückend werden die schon lange anhaltenden Beschränkungen der Kontakt-möglichkeiten empfunden, wie auch die geisterhaften Innenstädte mit ihren geschlos-senen Läden und das generelle Reiseverbot. Die ins Privatleben eingreifenden Restrik-tionen führen mehr und mehr zu Unmut, zu Unduldsamkeit und Unbehagen. Noch ist die Vernunft bereit, die Maßnahmen zu akzeptieren, sie als Notwendigkeit zu begreifen, doch schwindet langsam und stetik die Einsicht in die Rechtmäßigkeit der auferlegten Zwänge. Die Erinnerungen an frühere Zeiten und der ständige Vergleich mit den damaligen Möglichkeiten gelebter Freizügigkeit sind wie ein Stachel, der das Bewusst-sein in Unruhe versetzt und den Kontrast verstärkt zu den jetzt verordneten Beschränkungen. Jeder Gedanke an das Wünschbare schafft Verbitterung angesichts des Notwendigen. Das Notwendige aber findet seine Rechtfertigung in dem Versuch, dem sich unerbittlich gebärdenden Virus Einhalt zu gebieten. Es ist das Virus, das die Motivation liefert, die gesellschaftliche Not mit den gebotenen Beschränkungen notge-drungen zu akzeptieren; es ist das Virus, das die Maßnahmen erzwingt.

Nun aber wird immer häufiger und dringlicher die Frage nach der Wirksamkeit und Ver-hältnismäßigkeit dieser Maßnahmen gestellt. Es ist legitim solche Fragen zu stellen ins-besondere bei einer fehlenden bzw. sich ständig verändernden Entscheidungsgrundlage. Niemand kann die weitere Entwicklung der Pandemie vorhersehen, schon gar nicht, wenn auftretende Mutanten mit jeweils eigenen Verhaltensmustern das Erscheinungs-bild wesentlich verändern. Hier geht es um Vernunft einschließlich eines grundlegenden Demokratieverständnisses. Demokratisch getroffene Entscheidungen sind zunächst ein-mal verbindlich. Dabei ist für alle das Bemühen erkennbar, dass in sequentiellen und zeitnahen Beratungen der Entscheidungsgremien die jeweilige Situation neu einge-schätzt und die Maßnahmen entsprechend justiert werden. Trotz der Verbindlichkeit dieser auf demokratischem Wege getroffenen Entscheidungen bleibt jedem Politiker und jedem Bürger das Recht vorbehalten, sich eigene Gedanken zu machen, dies und jenes in Frage zu stellen und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Ob damit gemeint sein kann, dass jeder Bürger die Maßstäbe für sein Handelns selbst festlegen kann, sei dahingestellt. Immerhin ist zu beobachten, dass sich auf dem Boden einer zunehmenden Ungeduld und einer (verständlich) schwindenden Opferbereitschaft eine verwirrende und wenig konstruktive Meinungsdivergenz breit macht, die schließlich jeden einzelnen Politiker und Bürger zum kenntnisreichen Spezialisten kürt.

Um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, tut es Not, sich noch einmal den bisherigen Verlauf der Pandemie vor Augen zu führen:

So standen sie sich gegenüber: die Not eines weltweit um sich greifenden und tod-bringenden Virus auf der einen und die Not, resultierend aus den staatlich verordneten Restriktionen auf der anderen Seite. Es war die gemeinschaftliche Vernunft sich in diese Notwendigkeit zu fügen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu akzeptieren. Die Einhelligkeit der gemeinschaftlichen Zustimmung erfuhr jedoch bereits in den An-fängen insofern eine Relativierung, als immer deutlicher wurde, dass die Erkrankung vor allem ältere Menschen befiel und in den Altenheimen zu erheblichen Todesraten führte. Junge Menschen blieben entweder verschont oder hatten meist nur über leichte, vorübergehende Symptome zu klagen. Die Vernunft als Gebot der Solidarität bekam erste Risse; Jugendliche begannen, die Maßnahmen weniger ernst zu nehmen, sie trafen sich zu Partys und fühlten sich unangreifbar, wohl wissend, dass gerade sie mit ihrem Verhalten zur Ausbreitung des Virus beitragen. Man hörte zwar von steigenden Todes-raten, doch der Tod ereignete sich auf Intensivstationen, weit entfernt von ihrem Vorstellungsvermögen und in großem Kontrast zu ihrer Feierlaune.

Der „lock down“ dauerte und dauerte und führte zunehmend zu wirtschaftlichen Pro-blemen und zu einer allgemeinen Unzufriedenheit angesichts sich ins Unerträgliche steigernden familiärer und sozialer Belastungen. Eine Zeit lang konnten fallende Infek-tionszahlen beobachtet werden und Hoffnungen auf ein Ende der Restriktionen wurden geweckt, doch auftretende Mutanten (England, Südafrika, Brasilien), brachten mit ihrer zunehmenden Aggressivität noch einmal die Gefährlichkeit dieses Virus ins Bewusst-sein.

Inzwischen aber passierte noch etwas anderes. Es war nicht schwer zu verstehen, dass es der Politik schwer fiel, Wege in der Not und aus der Not zu finden und Maßnahmen zu definieren, die sich als tauglich erweisen würden, der Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Zu wenig war bekannt von den Eigenschaften des Krankheitserregers, zu wenig von den Ausbreitungsmechanismen. Es war spürbar, wie intensiv sich die Politik um Informationen bei Wissenschaftlern bemühte, um stringente Anweisungen geben zu können. Die Suche nach dem richtigen Weg wurde allgemein deutlich. Durch fatale Fehler in der Handhabung dieser Probleme veränderte sich in zunehmendem Maße die Einstellung der Öffentlichkeit. Stand am Anfang die Bedrohung durch das Virus gegen die zweifellos notwendigen Maßnahmen (Virus contra Mensch), so steht jetzt die Politik mit ihren verordneten Restriktionen gegen die teils unvernünftigen teils verständlichen „Befreiungswünsche“ (Politik contra Mensch). So das allgemeine Empfinden.

Folgende Fehler sind zu benennen:

  1. Die jeweiligen Regierungen haben die Maßnahmen beschlossen und diese erst im Nachgang vom Parlament bestätigen lassen. Daraus erwuchs der Eindruck der „Eigenmächtigkeit“ unter Ausschluss des „Volkes“ (des Parlaments).
  2. Dass die AFD grundsätzlich gegen die Maßnahmen agiert, entspricht ihrer Gesinnung, nach der dem Leben weniger Bedeutung beigemessen wird als dem „Geschäft“. Außerdem geht es dieser Partei vorrangig um Stimmungs-mache und Wählerfang.
  3. Gerade die kleinste Oppositionspartei machte mit perseverierenden Konjunk-tivformulierungen auf sich aufmerksam (hätte, würde, müsste) und nahm damit nicht an der Suche nach geeigneten Maßnahmen teil, sondern versuchte die Bestehenden ständig zu relativieren. Man musste den Eindruck einer aus-schließlichen Selbstdarstellung gewinnen. Die Partei machte Wahlkampf auf Kosten der eigentlichen Probleme.
  4. Die Medien agierten propagandistisch. Immer wieder nahmen sie Meinungen auf, dehnten und multiplizierten sie zur scheinbaren Richtigkeit und trugen so zur Verunsicherung bei. Sie suchten nach Meinungsdivergenzen unter den Wissenschaftlern und warfen den Regierungen vor, die eine oder die andere gezielt zu nutzen, um ihre Ziele durchzusetzen.
  5. Es ist notwendig, die von den Regierungen getroffenen Maßnahmen jeweils zu aktualisieren und auf ihre Tauglichkeit hin zu hinterfragen. Das regelmäßige Bund-Ländertreffen im Kanzleramt erschiene durchaus sinnvoll, würden die Vereinbarungen nicht bereits am nächsten Tag von einigen Ländern relati-viert und eigene Regelungen getroffen. Dieses Hin und Her zerstört jedes Ver-trauen.

In der Kontroverse „Mensch contra Politik“ verliert die Gefährlichkeit des Virus nach und nach Aufmerksamkeit und Bedeutung. Die täglich vermittelten Zahlen verblassen zur Makulatur. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen einerseits die Sinnhaftigkeit der von der Politik getroffenen Maßnahmen, andererseits die Sehnsucht und die Ungeduld, endlich von den Restriktionen befreit zu werden. Verlangt werden Perspektiven, gefordert wird Planbarkeit. Diese Wünsche müssen angesichts des eigengesetzlichen und nicht vorhersehbaren Verlaufs der Pandemie unerfüllt bleiben. Die Entwicklung der Pandemie als unbekannte Größe einerseits und die von ihr ausgehende Gefahr bleiben zunehmend außer Acht. Die verständlichen Nöte und Ängste, werden mit einer immer größeren Emotionalität und gänzlich an der eigentlichen Problematik vorbei vorgetragen.

Im ständigen Gegeneinander können die Probleme nicht gelöst werden. Beginnen die Parteien darüber hinaus, wahltaktische Überlegungen in die bestehende Kontroverse mit einfließen zu lassen, werden die Auseinandersetzungen irrational und kontrapro-duktiv. Auch hierbei spielen die Medien eine problemverstärkende Rolle. Es ist zwar richtig und wichtig, auf die finanziellen, wirtschaftlichen, familiären, pädagogischen kulturellen Nöte und existenziellen Sorgen hinzuweisen und sie als ernst zu nehmendes Problem ins Bewusstsein zu bringen, doch eine pure Emotionalisierung trägt nicht zur Problembewältigung bei. („Wie lange halten wir noch durch?“ „Wann kann Maria endlich wieder ihre Freundin sehen?“ „Die Masken sollen doch nicht effektiv sein!“ „Die Menschen leiden; wie lange noch?“ etc.) Es wird nicht die Vernunft gefördert sondern Emotionen geschürt. Ein Zitat von Matthias Claudius sollte stets bedacht werden. „Sage nicht alles, was du weißt, sondern wisse immer, was du sagst.“ Das gilt auch und besonders für die Medien, nicht zuletzt aber für die politisch Verantwortlichen! Alles, was gesagt wird, fällt auf einen Boden, der durch die Ergüsse von Verschwö-rungstheoretikern, Querdenkern und Pandemieleugnern bei jeder Art von gefühliger Auseinandersetzung ohnehin brüchig zu werden droht.  

Wir leben in einer Zeit einer weltweiten Pandemie, einer das Leben gefährdenden Naturkatastrophe. Wir alle sollten mit der Wahrheit und mit der Verantwortung – behutsamer umgehen! Die Ernsthaftigkeit des Problems darf nicht unterschätzt werden! Hinter den täglich aufscheinenden Zahlen verbergen sich menschliche Schicksale! Vergessen wir sie nicht! Auch die andere Seite, die von der Gemeinschaft abverlangten Opfer, dürfen nicht vergessen werden. Wie also sollen wir mit diesem, uns alle hart treffenden Missgeschick umgehen? Religiöse Erklärungstheoretiker halten es für eine Strafe Gottes; worauf aber sollte sich diese Strafe beziehen? Nach christlichem Verständnis gibt es keinen strafenden Gott.  Warum auch ablenken von dem, was in der Bewältigung der Krise unsere ureigenste Aufgabe ist? Auf unterschiedliche Weise ist das Leben bedroht, sind Existenzen gefährdet. Es stellen sich Fragen an die Gemeinschaft und innerhalb der Gemeinschaft an jeden Einzelnen von uns. Haben wir noch die richtige Vorstellung von Freiheit? Gibt es individuelle Freiheiten auf Kosten der Gemeinschaft? Was bedeutet Solidarität, wenn wir feststellen, dass entstehende Nöte den Zusammenhalt gefährden und versucht wird, eigene Interessen gegen das Gemein-wohl durchzusetzen? Werden wir der Würde des Menschen gerecht, wenn wir gegen das todbringende Schicksal einzelner unsere eigenen Wünsche nach Freiheit und per-sönlichem  Unbeschaded-Sein verfolgen?

Wir leben in einer Krise. Nützen wir sie, um zusammen zu rücken, um sie gemeinsam zu bestehen! Es ist die Zeit, sich auf diejenigen Werte zu besinnen, deren Bedeutung uns vor der Krise zu entgleiten drohten.