Literatur

So, wie man scherzhafterweise den verschiedenen Instrumenten eines Orchesters unterschiedliche Charaktere zuordnen kann, könnte man auf die Idee kommen, die verschiedenen literarischen Gattungen auf die einzelnen medizinischen Fachlichkeiten zu projizieren. Zur Verfügung stehen dabei das Epos, der Roman, die Kurzgeschichte, das Drama, die Novelle, die Erzählung, das Kinderbuch, die Lyrik u.a.. Schnell wäre man dabei, die Radiologie mit dem Bilderbuch zu vergleichen – aber natürlich ist das keine Literatur. Leicht hingegen fiele die Zuordnung des Romans zur inneren Medizin und die des Epos’ zur Psychosomatik. Die Psychoanalyse erinnert mitunter an das Drama, wenngleich komödiantische Züge nicht immer auszuschließen sind. Die Pädiater sind zweifellos die großen Erzähler, während sich der Allgemeinmediziner meist mit Kurzgeschichten zu begnügen hat. Das Charakteristische an der Erzählung ist, dass lange Zeit nichts geschieht, bis dann auf Seite 300 ein vorsichtiger Kuss das erlösende Ende markiert, wie etwa im Adalbert Stifter’schen „Nachsommer“. Die Kurzgeschichte hingegen kommt schnell auf den Punkt; nicht selten wird dabei von kuriosen Dingen berichtet, man denke an Edgar Allan Poe: „Gespräch mit einer Mumie“. Was die Novelle angeht, wird diese ja selten von ihrem Ende her aufgerollt, was dann am ehesten an die Pathologie oder die Gerichtsmedizin erinnern würde; meist handelt es sich jedoch um die Darstellung in sich schlüssiger Lebensentwicklungen, abzulesen an markanten Lebensdaten, was den Vergleich mit dem Laborarzt nahelegt. Die Lyrik mit ihrer komprimierten Textdichte bliebe zweifellos der Chirurgie vorbehalten. Allerdings ist der Hinweis zu berücksichtigen, dass nicht alles, was sich reimt, auch schon Lyrik ist. Um das Gesagte zu verdeutlichen denke man an Loriot: „Ich muss die Nase meiner Ollen an jeder Grenze neu verzollen“ und an Rilke „Herr der Sommer war sehr groß…schenk’ uns noch zwei südlichere Tage!“ Es mag verwundern, aber das gesamte Spektrum von Gereimtem und Ungereimtem findet sich auch in der Chirurgie. Bliebe noch das Kinderbuch. Versuchen wir allerdings in diesem Fall keine Zuordnung. Vielleicht sollte es beispielhaft sein für die ganze Medizin: verständlich, glaubwürdig, wahrhaftig.

Die Literatur bietet die Möglichkeit, das Leben mit all seinen Schattierungen, seinen Erquicklichkeiten aber auch Ängsten und Seelennöten auf eine Ebene der Verständlichkeit und Allgemeingültigkeit zu transponieren. Nicht jede persönliche Erfahrung findet ihr Korrelat im Allgemeingültigen doch liefert das Allgemeingültige immer wieder Anregung und Hilfe bei der Verarbeitung und Bewältigung individueller Probleme.