Es ist allgemeiner Konsens, dass wir wachsam sein müssen und bereit, unsere demokratischen Werte zu schützen und sie notfalls zu verteidigen. Diese Erkenntnis resümiert gleichsam die Erfahrungen aus 75 Jahren Leben in der Obhut des Grundgesetzes. In diesem Zusammenhang ist Freiheit ein zentraler Begriff. Das kollektive Gefühl vermittelt jedoch den Eindruck einer allgemeinen Beunruhigung angesichts der vielen aktuellen Krisen in der Welt. Machen wir uns die Zustände in der Welt bewusst, dann müssen wir uns eingestehen, dass wir nicht nur in geregelten und verlässlichen Verhältnissen leben, sondern auch in einem Wohlstand, der uns eine gewisse Leichtigkeit des Seins vermittelt. Allerdings müssen wir feststellen, dass im gesellschaftlichen Zusammenleben eine auffallende Unruhe entstanden ist angesichts verrohender Tendenzen und regelgefährdender Eigenwilligkeiten. Es ist auffällig, dass das Zusammenleben von einer gereizten Kurzatmigkeit befallen ist, unduldsam und herrisch. Man möchte es verstehen, man will Einfluss nehmen und das Getriebene zur Ruhe bringen, doch zuvor wird es notwendig sein, die Gründe in Erfahrung zu bringen, die für eine solche Entwicklung verantwortlich sind.

Was hat sich in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein verändert, oder besser noch, welche Entwicklungen bzw. Veränderungen stellen wir noch fest, die entweder zufällig bzw. beiläufig auftreten oder kausal verstärkend auf die beschriebenen Auffälligkeiten einwirken. Wie lässt sich mit kurzen Worten der imperiale Einfluss der Technik auf den heutigen Menschen beschreiben und ebenso der Einfluss der durch sie ermöglichten Lebensart, auf den Selbstwert des Menschen, sein soziales Verhalten, die Kommunikation und die Informationsvermittlung? Wird der Mensch mit der Zunahme seiner Möglichkeiten reicher oder ärmer? Verhilft ihm die Fülle der auf ihn einströmenden Informationen zu einer größeren Entscheidungsfreudigkeit oder bewirkt sie eher eine abwartende und zögernde Ratlosigkeit? Ist die Präsens in den sozialen Netzwerken geeignet, sein Selbstwertgefühl zu stärken oder tragen die vielen Verhaltensmuster und Erscheinungsimplikationen nicht eher zu seiner Verunsicherung und mitunter zu dem Gefühl der Verlorenheit bei? Ist die vereinnahmende und atemlose Kommunikationsintensität Ausdruck einer überlegenen Souveränität oder eher Zeichen für eine vergebliche Suche nach Orientierung und Halt?

Weitere, noch nicht bewältigte Errungenschaften kündigen sich an, so die künstliche Intelligenz. Intensiv überlegt man, wie man den Menschen und vor allem der heranwachsenden Jugend die Fähigkeit vermitteln kann, zwischen „wahr“ und „fake“ zu unterscheiden. Hinter diesem Problem aber verbirgt sich möglicherweise ein sehr viel Größeres, nämlich der Umstand, dass vor jeder Entscheidung, ob „wahr“, ob „fake“, das Misstrauen für die nötige Wachsamkeit sorgt, um sich vorsichtig abwägend einer Entscheidung anzunähern. Eine Kultur des Misstrauens aber hinterlässt Schäden und Risse im gesellschaftlichen Zusammen-leben.

Welche Veränderungen sind noch erwähnenswert? Wie etwa sind die Kirchenaustritte in beiden Konfessionen zu bewerten? Gewiss bedeuten sie nicht nur einen Verlust der Gottesgläubigkeit und sind nicht nur Ausdruck einer um sich greifenden Gottlosigkeit. Der Mensch ist sich selbst genug; scheinbar hat er alles im Griff; in Wahrheit aber ist er hilflos wie der Zauberlehrling, der, alleingelassen, in der Auseinandersetzung mit den ihn herausfordernden Mächten kläglich unterliegt. Dabei geht es nicht um einen Gott im überschaubaren Vorstellungswelt des Menschen, vielmehr um ein Wissen, das er in sich trägt und das ihn veranlasst, demütig zu sein in der Wahrnehmung und Respektierung des Lebens. So bedeutet die zunehmende Gottlosigkeit einen nicht unbeträchtlichen Kulturverlust. Den Glauben verlieren heißt, sich herauslösen aus der Orientierung gebenden Bestimmtheit einer vielstimmigen Bedeutungswelt und ein Sich-Freimachen von der unbedingten Gewolltheit des Lebens. Eine Gesellschaft, in der alles gleichwertig, gleichgültig und beliebig ist, in der das Dienen verpönt ist, in der mit dem Leben nicht respektvoll umgegangen wird, in der das Ich bestimmend im Mittelpunkt steht, verspielt zunehmend ihre Solidität und sie verarmt im bloßen Wollen. Sie begibt sich in die Abhängigkeit von einer Vergänglichkeit im lustbetonten Zeitverbringen. Wir müssen aufwachen und die Welt der Bedeutungen wieder entdecken. Bei all diesen, hier angeführten Aspekten ist zwischen Ursache und Wirkung schwer zu unterscheiden. Nachdenkenswert sind sie allemal. Zu bedenken aber ist ein anderer Punkt, der möglicherweise geeignet ist, manche Auffälligkeit zu erklären.

Angesichts eines imperialen Machtstrebens von einer zunehmenden Anzahl autoritärer Despoten und angesichts der Zunahme einer demokratiefeindlichen Gesinnung in unserer Gesellschaft ist viel von der Notwendigkeit die Rede, die Freiheit und damit die demokratischen Werte zu verteidigen. Mit dem Gedanken, die Freiheit zu verteidigen, tun wir uns offensichtlich schwer, denn das hieße, die Zone der Ruhe zu verlassen, um das zu verteidigen, was wir ohnehin, und dazu noch so bequem, zu haben glauben. Warum für etwas kämpfen, was wir in so angenehmer Weise zu genießen gelernt haben? Ich kann in den Urlaub fahren, wohin ich will, ich kann bei Rot die Ampel überqueren, wann immer ich es für notwendig halte, ich kann mein Handy bedienen, wann und wo ich will, ich kann essen, was mir schmeckt; ich habe, wenn ich es recht besinne, grenzenlose Freiheit! Wozu und wofür also kämpfen und wozu kampfbereit sein?

Nun gibt es Kräfte in uns, die uns beeinflussen und lenken, ohne dass es uns bewusst werden muss. Eine solche Kraft ist die Angst. Etwas zu besitzen, vermittelt gewöhnlich ein Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit, so, wie der Wohlstand in der Regel glückliche und zufriedene Menschen hervorbringt. Nun aber ist denkbar, dass sich in den Bestand der positiven Gefühle unvermittelt Angst einschleicht mit der Sorge, eben das zu verlieren, was Grund des Glückes und der Zufriedenheit ist. Die Denkart ist uns durchaus geläufig: Bisher ging es immer aufwärts und es ging uns gut, aber was wird in der Zukunft sein? Es sieht gar nicht gut aus! Diese Angst kann sich durchaus zu einer allgemeinen Zukunftsskepsis verdichten und sich lähmend auf das kollektive Gefühl auswirken. In dieses Gefühl mischt sich Unsicherheit und die Sorge um die Nachkommen, die Kinder; wie wird es ihnen einmal gehen? Diese Gefühle wecken Ängste und es ist so leicht nachzuvollziehen, dass sich diese Ängste am ehesten dort aufgehoben wissen, wo auf alle Probleme kurze, klare und einprägsame Antworten gegeben werden. Es ist das Metier der Populisten und der Rückwärtsgewandten, die weit ab von moralischen Bedenken in nachvollziehbarer Eindeutigkeit formelhafte Lebensvereinfachungen anbieten, womit sie aber jede Lebensvielfalt in das Raster einer indoktrinierten Eintönigkeit zwingen. Dieses Raster kennt keinen Respekt, keine Toleranz, kein Mitgefühl, kein wirkliches Miteinander, sondern nur den Gleichschritt, die triumphal überhöhte Einfalt. Nun kann es nicht gut sein, wenn eine Regierung mit ihrer Arbeit das Gefühl der allgemeinen Unsicherheit noch verstärkt, wenn sie in wichtigen Themen nicht wegweisende Klarheit schafft und damit beruhigend auf die Gemütslage einwirkt. Klarheit und Verlässlichkeit gehören wohl zu den vornehmsten Aufgaben einer Regierung.

Dass die Angst noch in ganz anderer Form wirksam werden kann, sollen zwei Beispiele aus der aktuellen Politik zeigen:
Ungarn entwickelt sich mehr und mehr zu einem Problemfall innerhalb der Europäischen Union. Die fundamentale Voraussetzung für einen Staat in der EU ist die Akzeptanz der demokratischen Grundwerte. Nur auf dieser Basis kann sie ihrer Identität gerecht werden und ein überzeugender und würdiger Vertreter von Freiheit und Menschenwürde in der Welt sein. In Ungarn sind diese Grundfesten der Demokratie nicht nur in Gefahr, sie sind in einem Maße verletzt, wie es für Brüssel nicht hinnehmbar sein kann, ohne in ihrer politischen Handlungsnotwendigkeit eingeschränkt zu sein. Statt aber klare Bedingungen zu formulieren und diese konsequent durchzusetzen, übt Brüssel Zurückhaltung aus Angst, allzu große Härte könne sich auf andere Staaten negativ auswirken. Klarheit und Verlässlichkeit sind das eine, Entschlossenheit und Mut das andere, was dem Regieren nachhaltigen Erfolg verschafft.

Ein zweites Beispiel betrifft das Verhalten der deutschen Regierung, im Besonderen des Bundeskanzlers, im russischen Krieg gegen die Ukraine. Die derzeitige Lage an der Front ist besorgniserregend. Seit über einem halben Jahr bittet die Ukraine die Weltgemeinschaft um Waffen, insbesondere um Flugabwehr und Munition. In vielen Regionen ist die Bevölkerung der uneingeschränkten Lufthoheit der Russen schutzlos ausgeliefert. Die immer wieder beschworene Feststellung, Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen, beginnt, in der Realität der Ereignisse brüchig zu werden. Ein halbes Jahr konnte die USA nicht liefern, Europa erwies sich als unfähig, seinen in immer größere Not geratenen Nachbarn wirkungsvoll zu unter-stützen. Was Russland mit seiner sanktionierten Wirtschaft schafft, ist dem um seine Freiheit bemühten Europa nicht möglich. So groß ist das Demokratiebewusstsein und so groß die Wahrnehmung seiner Gefährdung! Die Ukraine bittet weiter um Flugabwehr und um geeignete Distanzwaffen, die es ermöglichen, vor allem die weit entfernten Abschussstellen der Gleitbomben wirkungsvoll zu bekämpfen. Weiterhin fehlt es an Munition; es steht zu befürchten, dass der russischen Armee die Einnahme von Charkiw gelingt, die Millionenstadt die ehemalige Hauptstadt, die mit allen Hoffnungen auf die Zukunft erfüllte, ein Herzstück der Ukraine. Deutschland hätte die erforderlichen Distanzwaffen, doch der Kanzler will sie nicht liefern, aus Angst, dieser Schritt könnte Putin veranlassen, zu eskalieren und Deutschland mit in den Krieg hineinzuziehen. Scholz will die Kontrolle behalten und dafür sorgen, dass russisches Gebiet vom ukrainischen Militär respektiert wird. Was ist das für eine paradoxe Situation? Deutschland liefert der Ukraine Waffen und tut gleichzeitig alles, russisches Gebiet zu schützen. Diese Hilfe ist nichts anderes als eine Beihilfe zum Untergang der Ukraine.

Wenn Russland den Krieg gewinnt, dann ist der Frieden in Europa in Gefahr! Es ist nicht Besonnenheit, die den Kanzler bewegt; er blickt auf die Parlamentswahlen im nächsten Jahr. Er will Friedensgarant sein und ist doch in Wahrheit ein Sicherheitsrisiko. Von denen, die versuchen, ihm die Augen zu öffnen, sagt er, sie hätten Schaum vor dem Mund. Was ist das für ein Mann? Von Angst getrieben, blind und realitätsvergessen, dickhäutig und auch noch arrogant. Man sieht, was Angst bewirken kann.

Es ist Krieg: Politische Betrachtungen zu Putin und der Ukraine

Der mörderische Krieg Putins gegen die Ukraine trifft Europa unvorbereitet in einer Zeit sicher geglaubten Friedens.

Ein Buch von Prof. Dr. Johannes Horn