Was wird aus einem Menschen, der als Geheimdienstoffizier über viele Jahre in verantwortlicher Stellung tätig war?

Der prägende Einfluss beruflicher Tätigkeit auf die Persönlichkeit eines Menschen ist ebenso evident wie die Auswirkungen markanter Persönlichkeitsmerkmale auf die berufliche Tätigkeit. Demzufolge setzt die am Anfang gestellte Frage die Kenntnis der jeweiligen Person voraus. Ohne diese Kenntnis kann es nur darum gehen, spezifische Charakteristika der Geheimdiensttätigkeit herauszuarbeiten, die geeignet sind, die Verhaltensweisen eines Menschen zu beeinflussen. Das Charakteristische jeder Geheimdiensttätigkeit markiert bereits der Begriff „geheim“. Alles, was geschieht, geschieht im Verborgenen. Der Begriff „geheim“ trennt die Welt in zwei Bereiche, einen Inneren, von außen nicht einsehbar und nicht verstehbar und in einen Äußeren; er existiert real und ist für jedermann zugänglich. Die Tätigkeit im Inneren dieses etablierten Systems besteht zu aller erst darin, ein jeweils genaues und aktuelles Bild vom Außen zu haben, alles, was im Außen vor sich geht zu erkennen und zu analysieren. Die Mittel, die für diese analysierende und entlarvende Tätigkeit zur Verfügung stehen, überschreiten gewöhnlich die im Äußeren geltenden Regeln. Es wird eine distanzlose Nähe zu allem und jedem angestrebt, denn grundsätzlich steht alles unter Verdacht und so ist das Misstrauen wesentlicher Betreiber all seiner Aktivitäten. Der zweite Begriff, der die Tätigkeit des Geheimdienstes prägt, ist das Beiwort „Dienst“. Nicht nur, dass man im Auftrag handelt; jedes Handeln ist per se legal, gleichsam fremdverantwortet, von oben gewollt. Demzufolge erübrigen sich Fragen nach richtig oder falsch, nach vertretbar oder unerlaubt; es zählt allein der Erfolg. Neben dem Misstrauen, das dieser Tätigkeit immanent ist, vermittelt diese Tätigkeit ein scheinbar gerechtfertigtes Gefühl von entkoppelter Freiheit, von einer unangreifbaren Selbstsicherheit, von einer selbsterklärenden Überlegenheit.

Wie sich jedoch die Geheimdiensttätigkeit in Einzelnen gestaltet, hängt ganz wesentlich vom staatlichen System ab, in dessen Auftrag er tätig ist. In einer Demokratie gibt es keine rechtsfreien Räume, sodass die Regeln im Inneren des Systems nicht anders sind als in der außen gelebten Realität. Diese Übereinstimmung vom Außen und Innen bedingt im politischen Alltag eine verlässliche Kongruenz zwischen Regierungsverantwortung und geheimdienstlicher Tätigkeit zumal dem Parlament eine Kontroll- und Aufsichtsfunktion zukommt. Völlig anders verhält es sich in totalitären Staaten. Der Geheimdienst ist Organ einer zentralistischen Regierung und somit aktiver und eben geheim agierender Teil ihres Handlungsspektrums im In- und Ausland. Ziel eines solchen Geheimdienstes ist nicht nur Wahrnehmung sondern Beeinflussung. Die Lage in der äußeren Welt wird akribisch analysiert zumal in einem totalitären Staat das Gefühl des ständigen Bedroht-Seins charakteristischerweise unterschwellig existent ist. Das Bild der Außenwelt entspricht demnach nie dem Wunschbild von Regierung und Geheimdienst; immer fühlt man sich unverstanden, bedroht oder angegriffen. Die gefühlte Differenz von Bild und Wunschbild bewirkt ein ständiges Misstrauen und fördert die Anstrengungen, das Bild dem Wunschbild anzugleichen. In diesem Grenzbereich von Bild und Wunschbild entsteht das Machwerk von Täuschung und Lüge. Dem Wesen geheimdienstlicher Tätigkeit entsprechend wird dieses Machwerk zur Methode perfektioniert. Anfangs werden Dossiers mit gefälschten Inhalten oder falschen Behauptungen in die Welt geschickt, an Regierungen, wissenschaftliche Institute oder Medienportale, dorthin, wo die Hoffnung besteht, dass durch öffentliche Dementi, lautstarke Zurückweisungen oder empörte Richtigstellungen den Täuschungen und Lügen die erhoffte Aufmerksamkeit zuteil würde. Ob falsch oder nicht; immer bleibt etwas hängen, gleichsam als Hinterlassenschaft der Lüge. Es waren mühevolle geheimdienstliche Arbeiten, die nur mit profunden Detailkenntnissen und – mit Gummihandschuhen – zu erledigen waren, um geheim zu bleiben und keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Es entsprach der Dienstordnung, dass KGB-Offiziere einen Großteil der Dienstzeit mit solchen Aufgaben zu verbringen hatten Wirkung nach draußen zu erzeugen, bedeutete jedoch auch, vor allem in autoritären Systemen, Angst zu erzeugen. Angst als Wegbereiter jeder obstruktiven Verwaltung und jeder machtpolitischen Durchsetzung.

Wladimir Putin war von 1985 bis 1990 Offizier des KGB in der DDR (Dresden). In dieser Zeit gab man ihm den Beinamen „Giftzwerg“. Im Laufe der Jahre 1989 und 1991 waren es einschneidende politische Ereignisse, die bei Putin einen jeweils nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben Am 14. Juni 1989 wurden demonstrierende Studenten auf dem Tian’anmen Platz (Platz des himmlischen Friedens) in Peking martialisch niedergemacht. „Machterhalt durch Stärke“, ein Engramm, das sich bei Putin bleibend eingeprägt hat. Das Ende der DDR hat Putin in Dresden erlebt, als Demonstranten am 5. Dezember die Bezirksverwaltung des MfS (Ministerium für Sicherheit) besetzten und später zum KGB in der Angelikastraße zogen. Er fühlte sich machtlos. Aus seiner Sicht war es Schwäche, die schließlich zum Niedergang eines Systems führte. Am 1. Juli 1991 wurde das Schicksal des Warschauer Paktes endgültig besiegelt, gleichzeitig das Ende der UdSSR, von dem Putin später sagte, dass dies die größte geopolitische Katastrohe des 20. Jahrhunderts gewesen sei. 1993 wurde er nach seinen politischen Vorstellungen gefragt; er hielte, so seine Worte, eine Militärdiktatur noch chilenischem Vorbild (Pinochet) für denkbar.

So lebt Putin bis heute im Grenzbereich von Bild und Wunschbild und konsequent behielt er seine Verbindungen zu KGB (Auslandgeheimdienst) und FSB (Inlandgeheimdienst) bei. Allein der Umstand, dass er immer wieder von „vertikaler Ordnung“ spricht, zeigt, wie er sich organisierte Macht vorstellt. Die Methoden haben sich inzwischen zugunsten der Geheimdienste verändert. Gummihandschuhe sind nicht mehr erforderlich. Durch die Etablierung sozialer Netzwerke sind Täuschungen und Lügen leichter vermittelbar. Einigermaßen erstaunlich ist, dass mit Zunahme von Täuschung und Lüge zum einen die Verführbarkeit der Menschen zugenommen hat, zum anderen und in gleicher Weise die Unbedenklichkeit, sich der Lüge zu bedienen. So kann Putin sagen: “Wir greifen die Ukraine nicht an, wir verteidigen uns.“ Und: „Wir müssen die russische Bevölkerung im Donbas vor dem drohenden Genocid bewahren.“ Was aber machen sie wirklich: Aus dem völlig zerstörten Mariupol werden Frauen und Kinder gegen ihren Willen nach Russland verschleppt. Und Putin sagt: „Wir führen keinen Krieg gegen Zivilisten.“ Weil er nicht empfangen wird wie ein Befreier, weil man ihn nicht liebt, deswegen quält und tötet er all diejenigen, die ihn nicht lieben: Weil Putin nicht mehr differenziert zwischen Bild und Wunschbild, muss jedes Wort aus seinem Mund unter den Verdacht einer Täuschung oder einer Lüge gestellt werden.

Die Reduzierung der damaligen Sowjetunion auf das heutige Gebiet der russischen Föderation ist in seinen Augen die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Er argumentiert zwar: wer nicht darunter leidet, hat kein Herz; wer sich nach Wiederherstellung früherer Verhältnisse sehnt, hat keinen Verstand, doch ist der Niedergang der Sowjetunion für ihn ganz offensichtlich ein noch gärendes Problem. Es zeigt, wie sehr er geopolitischem Gedankengut verhaftet ist. Die Größe des russischen Territoriums scheint ihm wichtiger zu sein als das Wohlergehen der Bürger. Was er übersieht, ist der Umstand, dass die Aufrechterhaltung der Stabilität und der Größe des sowjetischen Einflussbereiches im Warschauer Pakt nur durch Unterdrückung der Bevölkerung und durch militärische Präsens, durch russische Panzer (Berlin, Ungarn, Prag) möglich war. Es war Größe durch Unterwerfung Anderer. In den osteuropäischen Ländern lebt die Angst vor russischer Verwaltung und russischen Panzern fort. Die Nato-Osterweiterung ist ausschließlich die Folge dieser rigiden Politik Russlands. Die Nato bedroht niemanden, sie schützt diejenigen, die sich bedroht fühlen bzw. bedroht werden.

Nun ist Putin Präsident der russischen Föderation. Jelzin hat ihn in dieses Amt gebracht, geschickt lanciert, unter Umgehung einer von der Verfassung vorgeschriebenen Wahl durch das Volk. Putin weiß nicht, dass sich Jelzin später einmal äußern wird, es sei ein Fehler gewesen, ihn zum Präsidenten zu machen. Nun ist er es; langsam und konsequent bündelt er das persönliche Gut des Erlernten, die Fülle seiner Erfahrungen, sein methodisches Wissen, all dies in die neue Aufgabe, Alleinherrscher des größten und geschichtsträchtigen Landes Russland zu sein und schon auf dem langen Weg zu seiner Vereidigung vorbei an den geladenen Gästen, durch Türen, die bereits die auf ihn zu kommenden überdimensionierten Aufgaben ahnen lassen, wird erkennbar, dass er nicht Diener des Amtes, nicht Wohltäter des Volkes sein will sondern Stratege, Entscheider und Lenker, in zaristischer Größe und Entschlossenheit in einem neuen Großrussland. Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen von historischer Tragweite, von Schwäche bedingtem Niedergang und Systemerhaltender Stärke wird er immer mehr zum Getriebenen seiner nach historischer Bedeutung gierenden Gedanken; immerhin repräsentiert er Russland und mehr noch, er ist Russland und als solcher muss er seinen Platz finden in der Welt, ein Platz, der ihm Achtung und Respekt verschafft. Es ist sein Auftrag, Russland zur alten Größe zurückzuführen. Die Lügen, in die er sich mehr und mehr verstrickt, zeigen, wie sehr er in seinem Wunschbild gefangen ist. Im Zwielicht der sich entwickelnden Paranoia, die ihm die Möglichkeit nimmt, zischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden, verliert er sein moralisches Gespür. Er sieht in der Welt nur noch geopolitische Einflusssphären; er fühlt sich bedroht, bedroht, von der Freiheit im eigenen Land. In der Einsamkeit seiner vertikalen Ordnung sucht er nach geistigen Weggefährten, nach Gleichgesinnten, nach vermittelbaren Leitbildern. In der Figur Stalins wird er fündig. Auch in seinem Bild wird nun Geschichte eigenwillig gedeutet: Nicht mehr Despot und Schlächter sondern National- und Kriegsheld, Sieger und Bezwinger des Nationalsozialismus, Und die Nazi’s, die, nach Putins Überzeugung, auch heute noch in der Ukraine wirksam sind, sie bedrohen ihn auch jetzt und sie bedrohen schließlich seine Idee vom Großrussland. Immerhin ist die Ukraine ein Teil dieses Wunschbildes „Großrussland“ ohne jedes Recht auf Selbständigkeit! Was ist sie denn die Ukraine ohne Russland, wenn man die Geschichte so sieht, wie ich, Putin, sie sehe? Ich, der ich berufen bin, mit Hilfe Gottes und der Kirche Erneuerer und Vollender des neuen Großrusslands zu sein! Sogar sein eigenes Volk, deren Präsident er ist, muss er belügen, um durch die vielen Lügen hindurch einen Weg zu finden und dabei machen es ihm so viele Menschen so leicht, diesen Weg zu gehen, als ob hinter der Lüge eine bewundernswerte Macht stünde. Warum erkennen es die Menschen nicht, dass die Lüge ein Feind der Freiheit ist.

Es geht in diesem Krieg um die Freiheit!!

Lassen wir das Argument nicht zu groß werden, dass wir durch diesen Krieg ärmer werden. Wir werden ärmer, wenn wir nachlassen, uns gemeinsam für die Freiheit einzusetzen. Es geht um die Freiheit, das müssen wir alle begreifen!!