Ein immer wieder ins Feld geführtes Argument Putins ist, dass Russland ein Sicherheitsbedürfnis habe, für das der Westen ein Einsehen haben müsse. Russland fühle sich durch die Osterweiterung der NATO bedroht. Mit seiner Politik müsse er, der Präsident, die Sicherheit Russlands gewährleisten. Erstaunlich ist, wie bedenkenlos westliche Politiker dieser Denkart Folge leisten: Man müsse das Sicherheitsbedürfnis Russlands respektieren; man müsse verstehen. usw. Putin kann sagen, was er will; er kann tun und lassen, was er will, er wird immer Versteher, immer Bewunderer finden. Der Grund hierfür liegt wohl darin, dass Schwäche stets fasziniert ist von (scheinbarer) Stärke, Zaghaftigkeit von Rigorosität und inszenierter Größe. Das Wahre ist immer wieder Opfer des Scheins, das Gewissen Opfer der Gewissen- und Bedenkenlosigkeit. Das Laute und das Frivole übertönen immer wieder den ehrlichen und unverdrossenen Versuch menschlichen Anstands.

Mindestens drei Mal unterzeichnete die russische Regierung Verträge, die der Ukraine das Recht auf Souveränität und territoriale Integrität zusicherten (Paris, Kiew, Budapest). Am 24. Februar 2022 gab Putin den Befehl zur militärischen Eroberung dieses schon längst selbstständigen und unabhängigen Staates. Sein operatives Ziel war, seinen Worten folgend: die Entnazifizierung und die Entmilitarisierung der Ukraine. Keineswegs ging es dabei um die Realisierung eines Rechtsanspruchs. Es handelte sich um einen eklatanten Rechtsbruch, um einen schnöden Bruch des Völkerrechts. Der Westen und nahezu die gesamte Welt waren empört, geradezu aus einem Schlaf gerissen, einem Schlaf, in dem man glaubte, sich auf ein Mindestmaß an Übereinstimmung hinsichtlich geltender Regeln des Zusammenlebens verlassen zu können. Ein Trugschluss! Skrupellos wird ein Volk überfallen, Menschen getötet, Städte zerstört, Leben geschändet und zunichte gemacht unter Missachtung aller zivilisatorischen Errungenschaften. Der Weckruf fand im Begriff der „Zeitenwende“ seine konsequente begriffliche Entsprechung als Ausdruck der Entrüstung und der Entschlossenheit, angemessen zu reagieren. Die täglich vor Augen geführten Folgen des Krieges, das unerträgliche Leid, die Wucht der Zerstörung, die teuflischen Machenschaften, all dies löste eine ungeahnte Welle der Hilfsbereitschaft aus; in jedem Wort und jeder offiziellen Verlautbarung waren die Wut und das Entsetzen über das gewissenlose Vorgehen spürbar. In den ostdeutschen Ländern allerdings und im Verhalten einiger westlicher Politiker änderte sich an der Haltung Putin gegenüber nichts Grundsätzliches. Man dürfe ihn nicht provozieren; man dürfe ihn nicht reizen, ihn nicht herausfordern. In politischen Talkshows ist immer wieder der Satz zu hören: Was die Nato angeht, hätte man doch sehr viele Fehler gemacht. Es wird die Osterweiterung angesprochen, der Irakkrieg und der Balkankrieg erwähnt mit dem durchschaubaren Versuch, den jetzigen Krieg Russlands mit offensichtlichen Fehlentscheidungen des Westens in der unlängsten Vergangenheit zu relativieren oder ihn gar zu legitimieren. Und wenn schon Fehler gemacht wurden: Sind die Ziele, die der Westen verfolgt (Freiheit, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte) weniger wert, weil man Fehler gemacht hat? Ist das Christentum weniger wert, nur weil Fehler gemacht wurden? Entscheidend sind doch die Werte, die wir immer wieder zur Geltung bringen und sie zu verteidigen bereit sein müssen.

Während der Kriegsverlauf aufmerksam beobachtet wurde, stand und steht stets die Frage im Raum: was wird er als nächstes tun? Wird er gar Atomwaffen einsetzen? In der Einschätzung des unrechtmäßigen Krieges ist man sich einig, doch bleibt Putin im allgemeinen Bewusstsein derjenige, der das Geschehen diktiert. Die Stimmung, die Putin erzeugt gleicht derjenigen einer Klasse, die bei der Rückgabe einer Klassenarbeit erwartungsvoll und ängstlich auf den Lehrer starrt: wie wird er urteilen, wird er strafen, wird er schimpfen und Konsequenzen ziehen? So, als wenn die Schüler von vornherein annehmen, sie hätten Fehler gemacht, sie würden den Ansprüchen des Lehrers nicht gerecht. Putin wird damit eine Rolle zugedacht, die ihm in keiner Weise zusteht. Bei vielen, die sich im Zusammenhang mit diesem Krieg äußern oder sich zu Wort melden, hat man den Eindruck, sie kennen weder die europäische noch die russische, geschweige die ukrainische Geschichte und schnell stellt man fest, dass das, was sie sagen nicht zu Ende gedacht ist bzw. lediglich eigene Belange, orientiert am eigenen Wunschdenken, wiederspiegelt (Wie schön wäre es, wenn Frieden wäre, wenn wir uns wieder mit anderen Dingen beschäftigen könnten und wenn uns die Folgen des Krieges nicht weiter belasteten). Nun ist aber das Böse in der Welt und wir stehen vor der Frage, wie gehen wir damit um?

Völkerrechtlich ist es nicht nur erlaubt, sondern gar geboten, einem Land, das widerrechtlich überfallen wurde jedmögliche Hilfe zukommen zu lassen (auch militärische). Das Ausmaß der humanitären Hilfe ist bewundernswert besonders dabei die vielen privat organisierten Hilfsaktionen. Was die Kriegsentwicklung angeht, wird immer deutlicher, dass sich die Ukraine durchaus der Übermacht Russlands erwehren kann, dass es Russland nicht gelingt, die ukrainischen Soldaten mit ihrem Mut und ihrer Standhaftigkeit in die Knie zu zwingen. Der Mangel an Waffen und Munition ist offensichtlich; vor allem fehlt strategisches Kriegsgerät, welches der Ukraine die Möglichkeit gibt, sich gegen die widerwärtigen Angriffe auf die Infrastruktur zur Wehr zu setzen. Eine beständige und zuverlässige Kraft sind (wieder einmal) die Vereinigten Staaten. Europa ist und bleibt schwach, beeindruckt von ihren eigenen wortgewaltigen Absichtserklärungen, wirkt es oft wie gelähmt. Trotz aller zivilisatorischen und humanitären Errungenschaften hat Europa bis heute nicht zu ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung gefunden. Es gelingt ihm offensichtlich nicht, das eigene Haus mit seinen vielen Aufgaben und Funktionen zur Reifung und Vollendung zu führen.

So gesehen ist auch der deutsche Bundeskanzler ein Europäer; immer wieder betont er, dass er Alleingänge vermeiden will; eine Devise, die nicht die beste Voraussetzung für eine Übernahme von Verantwortung signalisiert. Ihn umgibt eine anhaltende Ängstlichkeit; Angst aber korrumpiert den Geist, das Denken und Handeln und zerrüttet das Selbstvertrauen. Das machtvoll ausgesprochene Wort der Zeitenwende schwächelt bei der Umsetzung zur Tat, wobei Tat schließlich nichts anderes bedeutet als „Reaktion“, denn immer wartet der Westen auf die Vorgaben aus dem Kreml. In einer solchen, von Angst gelähmten Zurückhaltung entstehen typischerweise späte, nicht mehr einholbare Einsichten, die zu der bitteren Schlussfolgerung führen: „Ach hätte ich doch!“ Hätten wir nicht Grund, bei den Werten, die wir vertreten, etwas selbstsicherer und entschiedener zu sein?!

Vor kurzem haben die Vereinigten Staaten militärische Hilfe in Form von Luftabwehrsystemen (Patriot) angekündigt. Angesichts der massiven Luftschläge gegen die ukrainische Infrastruktur eine dringende, lebensnotwendige militärische Unterstützung. Die Reaktion aus dem Kreml: Putin droht dem Westen! Es zeige sich, wie wenig friedliebend der Westen sei! Putin droht! Zuerst fällt er in ein friedliches Land ein wie ein Einbrecher, wie ein Dieb in der Nacht, zerstört das Land und raubt es aus und dann droht er! Was für eine Chuzpe! Auf welcher Grundlage tut er das? Nach den tagelangen Raketenangriffen auf die Infrastruktur der Ukraine (Kraftwerke, Umschaltstationen, Gasleitungen, Kanalsysteme aber auch Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen) erklärte Putin voller Überzeugung, die Ukraine hätten ja angefangen und bezog sich dabei auf den Anschlag auf die Brücke, die die annektierte Halbinsel Krim mit der russischen Stadt Kertsch verbindet, so, als ob dieser Anschlag der Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine sei. Das erinnert an die Aussage Putins, die er zu Beginn des Krieges machte: „Nicht wir haben die Ukraine angegriffen; wir sind dabei uns zu verteidigen“. Wie ist dieses realitätsferne Denken zu erklären? Und auch diese Aussage Putins: „Wir haben keine andere Wahl, als unsere Bürger zu schützen“. Welche Bürger will er schützen, die russischen oder die ukrainischen? Von letzteren sagte er, er müsse sie befreien von der Herrschaft der Nazi’s. Dabei gibt es in seinem Umfeld mehr Nazi’s als in jedem anderen europäischen Land.

Wir sind gewohnt, Aussagen, die nicht mit der Realität übereinstimmen als Lügen zu bezeichnen. Lügen aber sind bewusste Falschaussagen, Behauptungen also, die wissentlich die Realität leugnen bzw. gegen ihre Inhalte gerichtet sind. Wenn aber Aussagen in voller Übereinstimmung mit dem Bewusstsein getroffen werden, dann wird man nicht von Lügen sprechen können, vielmehr handelt es sich um Aussagen über eine gefühlte Realität als Folge eines instabilen bzw. gespaltenen Bewusstseins. Es ist ein Versuch, die Puzzlesteine der Realität nach Maßgabe des Parallelbewusstseins zusammenzufügen.

Ein solches Parallelbewusstsein entsteht durch das Zusammentreffen charakterlicher Eigenschaften mit Umwelteinflüssen, die die anfänglich bestehende Eigenstabilität des Bewusstseins konsequent und systematisch verformen. Schon in jungen Jahren war es Putins Wunsch, für den russischen Geheimdienst zu arbeiten. Seine frühzeitige Affinität zu staatlichen Machtstrukturen war offensichtlich, möglicherweise motiviert durch das Bedürfnis der verdeckten Einflussnahme, d.h. agieren zu können, ohne die Notwendigkeit, sich selbst erkennen zu geben. Es könnte andererseits das Bedürfnis dahinterstehen, handeln zu können im verbrieften Schutz staatlicher Sicherheit, ein Handeln im Schutz einer a priori legitimierten Überlegenheit. Die Ausbildung zum Geheimdienstoffizier verlief zügig und überaus erfolgreich.

Eine wesentliche Voraussetzung für jede Art von Geheimdiensttätigkeit ist das Misstrauen. Jede wahrgenommene Veränderung ruft Argwohn hervor, liefert Verdachtsmomente, die es zu klären gilt. Immer ist das Gefühl der Bedrohung gegenwärtig, das Gefühl, sich wehren, sich verteidigen zu müssen. In diesem Umfeld von Wahrnehmung und reaktivem Handeln ist alles eine Frage der Deutung und alle Deutung ist ausgerichtet auf den Willen der Obrigkeit. Reichhaltig sind die Mittel, die zur Klärung und Bereinigung von unliebsamen Situationen zur Verfügung stehen. Ein Agent lernt diese Mittel unbefangen einzusetzen, zu enttarnen, zu entlarven, zu täuschen, zu fälschen, zu neutralisieren und er lernt, dass jedes Mittel geheiligt ist durch den Erfolg. Diese Mittel lernte Putin einzusetzen sowohl zur Abwehr einer vermeintlichen Bedrohung als auch als Mittel, die Gegenseite zu schwächen, ihr zu schaden, sie zu verunsichern. Lüge und Bedrohung sind erprobtes Inventar eines vom Gewissen entkoppelten und zugleich staatlich legitimierten Bewusstseins.

Als Offizier des sowjetischen Geheimdienstes, musste er 1991 erleben, wie die Sowjetunion zerfällt. Er kehrte nach glorreichen Jahren, die er nach seinem Befinden stets auf der Seite des Siegers verbracht hatte nach Petersburg zurück, wo er bei seiner Mutter in einer 3-Zimmer Wohnung unterkam. Was er als ein Fallen in die Bedeutungslosigkeit, als Schmach und persönliche Niederlage erfuhr, erlebten die von der marxistischen Diktatur beherrschten Teilstaaten wie eine Befreiung. Während des Kalten Krieges war die Philosophie Moskaus Sinn und Inhalt seines Lebens Die Größe des Reiches war ebenso überzeugend wie seine siegreiche Präsens im Weltgeschehen. Später einmal wird er einen Satz sagen, der prägend sein wird für sein politisches Verständnis und seine weitere politische Agenda: „Der Zerfall der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“ Er, aus einfachen Verhältnissen stammend, lernte das große Spiel um die Macht kennen. Aus seiner subjektiven Sicht des erlebten Niedergangs, war es ihm nicht möglich, zu einer differenzierteren Einschätzung der politischen Entwicklung zu kommen. Seine jahrelange Tätigkeit bestand darin, Einheit, Größe, Einfluss und Sicherheit dieses Vielvölkerstaates zu sichern. Plötzlich war er weggefegt, aufgelöst, verschwunden und reduziert auf das Mutterland Russland.. Während der Jahre seiner Geheimdiensttätigkeit hatte er keinen Grund, über das Wesen und die Besonderheiten dieses Staatskolosses, angeführt von der kommunistischen Einheitspartei, nachzudenken und in dem stets zur Schau getragenen Sieghaften auch die Kehrseite, die Verwundungen und das Elend in den Teilbereichen zu sehen. Seine berufliche Tätigkeit trug mit dazu bei, die Welt ausschließlich aus einer sehr persönlichen Sicht wahrzunehmen. So stand er immer auf einer Seite, die nur einem Aspekt der Realität entsprach. Was er als Sieg und Größe erlebte, erfuhren Andere als Not und Schmach; seine persönliche Erfahrung von Verlust und Niedergang erlebten Andere als Erlösung und Befreiung. Entscheidend ist, dass ihm diese zwei Sichtweisen nicht bewusst wurden und dass die weitere geschichtliche Entwicklung wesentlich zur Entscheidung beitrug, welche der beiden Sichtweisen Gültigkeit behalten sollte.

Von Jelzin wurde Putin zum russischen Präsidenten auserkoren und am Willen des Volkes vorbei in sein Amt eingeführt. Was für eine Ehre, was für eine Verantwortung, zum Präsidenten dieses großartigen russischen Volkes ernannt, gewählt oder berufen zu werden! Wie ist die Besonderheit dieses Volkes zu erfassen, zu begründen, zu beschreiben? Eine im Feuer der Geschichte durch Verschmelzung entstandene Legierung aus konglomeratartigem Urgestein; ein Volk, das sich in die Weite des Landes geduldig eingebracht, sie kreativ genutzt und schließlich urbanisiert hat. Die Erträge aus fruchtbaren Böden waren für die Menschen lange Zeit wesentlicher Bestandteil der Existenzsicherung, immer mit einem unterwürfigen schicksalergebenen Blick nach oben, zu Fürsten, Großfürsten, Patriarchen, Zaren, Revolutionsführern, Diktatoren. Das Ende der Leibeigenschaft 1861 war zwar ein Zeichen der Befreiung, doch änderte sich nicht viel an der schwer lastenden Abhängigkeit von sich ablösenden Obrigkeiten. In der Armut entwickelte sich eine liebenswert melancholische Naturverbundenheit und eine tiefe, fast schwermütige Religiosität. Der große innere Reichtum, genährt und gewachsen in der ständigen Auseinandersetzung zwischen den oft schweren Lebensumständen und der Urgewalt an Lebenswillen und Lebensfreude, zeigt sich in den unzähligen Kulturgütern auf allen Ebenen des Schaffens, in allen Bereichen menschlicher Kreativität. Es sind nicht nur die bekanntesten, Tolstoi und Dostojewski, die auf unterschiedliche Weise das einzigartige Profil des russischen Menschen geprägt haben; Tolstoi, der die russische Seele in seiner ganzen Tiefe und Glaubensstärke erfahrbar machte; und Dostojewski, der ein ungeschöntes Bild vom Menschen mit seinen ungebändigten Leidenschaften und seinen so oft tragischen schicksalhaften Verkettungen gezeichnet hat. Zu denken ist auch an Tschechow, Puschkin, Gontscharow und in jüngerer Zeit an Solschenizyn, die nicht nur die großartige russische Literatur in unser Bewusstsein gebrannt haben, sondern auch eine konkrete Vorstellung von den Lebensverhältnissen der Menschen in der unendlichen Weite des russischen Reiches vermittelt haben. Was wäre die Musik ohne den Reichtum russischer Empfindsamkeit, ohne das Zusammenspiel von einer ungezügelten Leichtigkeit und einem dem schweren Leben trotzenden Gestaltungswillen? Die ganze Welt ist begeistert von Tschaikowski; in allen großen Städten der Welt konnte er seine Musik, selbst am Pult stehend, vorführen, in Paris, New York, Rom und London, vielfach mit Ehrungen und Preisen versehen, mit Ehrendoktorwürden überhäuft! Russland, ein großartiges Land mit großartigen, immer auch gedemütigten und leidenden Menschen! Mit seiner auf Moskau ausgerichteten inneren Gewichtung, mit seiner Politik (vor allem Peter der Große, Katharina II), mit seiner Kultur und Lebensart war Russland stets ein Land, das sich der europäischen Gemeinschaft zugehörig und verbunden fühlte. Der Zweite Weltkrieg und vor allem die vom Kalten Krieg beeinflusste Nachkriegszeit förderte das strikte Ost-West-Denken; auf der einen Seite die Diktatur des Proletariats, das monolithische Auftreten der UdSSR mit der Unterwerfung zahlreicher Völker, auf der anderen Seite des Westens eine Völkergemeinschaft, die sich in der Überzeugung hinsichtlich gemeinsamer Grundwerte zusammengeschlossen hat. Diese Grundwerte beinhalten das Recht auf Freiheit und Freizügigkeit, die Gewaltenteilung innerhalb eines Staates und die Unantastbarkeit der menschlichen Würde.

Der Mauerfall 1989 war der Wegbereiter des Zerfalls der UdSSR im Jahr 1991. Das Gefühl des befreiten Aufatmens war im Westen und Osten gleichermaßen spürbar. Im Westen war es das erlösende Gefühl über das Ende der Bedrohung von außen; im Osten war es das Aufatmen durch das Ende der unmenschlichen, quälenden und zermürbenden Bevormundung durch die rigorosen Staatsorgane. Mit dem Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können, fanden unterdrückte Völkergemeinschaften zurück zu ihrer eigenen Identität und auch das russische Volk erlebte das Nachlassen der strangulierenden Kräfte wie eine Befreiung, die Mut machte und Hoffnung gab auf ein neues befreites Leben. Putin war nun Präsident. Auch er hatte eine solche Zeit noch nicht erlebt, eine Zeit mit weitgehend aufgehobenen Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen, mit einer liberalen Exekutive unter dem Wegfall des totalitären Machtanspruchs der Kommunisten. Die so entstandenen Freiräume, die Russland immer mehr an die Grenzen des Ruins brachten, wurden weidlich genutzt von geld- und machthungrigen Unternehmern, die damit begannen, die reichhaltig vorhandenen Rohstoffe ins Ausland zu verkaufen (Erdöl, Erdgas, Kohle, Eisen u.a.) – am Fiskus und damit auch am russischen Volk vorbei. Das Volk wurde immer ärmer, die Oligarchen immer anmaßender und frivoler in der Beanspruchung der Mitsprache in Politik und Wirtschaftsfragen. Putin war einer von ihnen. Die Macht, die er auf diese Weise gewonnen hatte, war zwar eine andere als die, mit der er umzugehen gewohnt war, doch half sie ihm, die Erfahrung des persönlichen Niedergangs zu verarbeiten. Als Präsident konnte er es jedoch nicht zulassen, unter Gleichen die Macht zu teilen; er muss den Anspruch auf die politische, die präsidiale Macht geltend machen! 2003 ließ er Michail Borisovic Chodorkovskij verhaften und verurteilen. Auf diese Weise war die ordnende Hierarchie wieder hergestellt. Dass Putin ihn später (2013) begnadigte, spricht wohl dafür, dass er ihn nicht als Oppositionellen betrachtete sondern als ehemaligen Rivalen, bestenfalls. Putin hat damit sein Ziel erreicht: er hat seine Macht, seinen gestaltenden Anspruch und seinen politischen Einfluss in das Licht präsidialer Dominanz gerückt.

Nun aber musste es weiter gehen, er musste weiterdenken! Dass sein Volk unter wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu leiden hatte, war ihm weniger bewusst als der Umstand, dass es jetzt, wo er Präsident ist, an ihm sei, Russland ein neues, geschichtsträchtiges Gesicht zu geben. Es ist an ihm, etwas Großes zu schaffen. Er, selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, zum Präsidenten Russlands avanciert, nimmt sich Peter den Großen zum Vorbild, den ersten Kaiser des Russischen Reiches (1721-1725). Es kann für ihn nur eine Richtung geben: nach oben! In die einsame Höhe historischer Bedeutung! Immer hat er seine jahrelange Tätigkeit im Geheimdienst vor Augen und die unvergleichlichen Mittel und Möglichkeiten als Garant für Gewinn und Erfolg. Im Bewusstsein der erreichten Machtfülle begann er, die Geschichte Russlands zu studieren; neben Peter dem Großen war es Katharina II. die ihm Bewunderung abverlangte. Ganz im Sinne seiner gewohnten Geheimdiensttätigkeit studierte er die Geschichte Russlands nicht, vielmehr legte er sie sich zurecht, nach eigenen Vorstellungen, nach seiner Deutung. Er war besessen von der Vision, derjenige zu sein, der fähig ist, Russlands Größe wieder herzustellen und seine Bedeutung im Weltgeschehen zu verankern. Diese Gedankenspiele vollzogen sich in der Erinnerung an jene Zeiten, in der er die Macht und die Größe „Russlands“ spüren konnte, die zugleich seine Größe war. Alte Bilder tauchten auf, Bilder des unlösbaren Ost-West-Konfliktes, Bilder des Misstrauens und der Bedrohung. Es verfestigte sich bei ihm die Vorstellung, dass die Größe Russlands und schließlich seine Existenz gegen die ständige Bedrohung aus dem Westen verteidigt werden muss.

In diesem Raster vollziehen sich Putins Planspiele und vor diesem Hintergrund betreibt er seine präsidiale Agenda. Nicht das Wohl des Bürgers liegt ihm am Herzen, nicht die drückende Armut, die spürbaren sozialen Defizite, das nicht zu korrigierende Gefühl einer ständigen Bedrohung verlangt nach militärischer Stärke, nach Gegenwehr! Um seine Vorhaben wenn nötig auch gegen Widerstände durchsetzen zu können, bedarf es einer linientreuen Legislative und einer straff organisierten Exekutive; er investiert große Summen in das Militär und in einen verlässlich funktionierenden Polizeiapparat. Die Entwicklung zu einem totalitären Staat ist unausweichlich.

Der größte Feind eines totalitären Systems ist die Idee der Freiheit. Putin ist zwar dabei, seine Erfahrungen aus den Zeiten des Kalten Krieges fortzuschreiben und die „Bedrohung“ aus dem Westen propagandistisch zu nutzen, doch ist ihm bewusst, dass im Streben nach Freiheit die eigentliche Bedrohung für sein totalitäres System zu sehen ist. Grundsätzlich aber muss man verstehen, dass das Gefühl der Bedrohung in ihm selbst anlasslos als Folge eines über Jahre antrainierten Misstrauens stets präsent ist; es ist von außen weder zu steuern noch zu entkräften. Völlig unsinnig erscheinen vor diesem Hintergrund die immer wieder vorgebrachten Argumente, man dürfe ihn nicht reizen, ihn nicht demütigen. Er tut, was er für notwendig hält, entscheidend ist allein der Erfolg.

Es gibt zahlreiche, aus der Geschichte hergeleitete Argumente, Die Ukraine als ein Brudervolk Russlands zu verstehen. Weit mehr Argumente jedoch zeugen von einem anderen Sachverhalt; historisch gesehen war die Zeit einer gemeinsamen Regierung wesentlich kürzer als die Zeit getrennter Zugehörigkeiten. Den Sieg gegen Nazi- Deutschland haben Russen und Ukrainer gemeinsam errungen. Auch wenn es Putin offensichtlich gelungen ist, Stalin gesellschaftsfähig zu machen, ist es eine Verzerrung der Geschichte, Stalin als den großen Volkshelden und Nazi-Bezwinger zu deklarieren; zum einen waren ukrainische Soldaten gleichermaßen beteiligt, zum anderen waren es die Alliierten in ihrer Gesamtheit, die den Krieg gegen Deutschland gewonnen haben.

Mit dem Zerfall der UdSSR begann für beide Staaten eine neue Zeitrechnung. Auf der einen Seite die Russische Föderation, auf der anderen die Ukraine, die seit 1991 als unabhängiger und selbstständiger Staat Mitglied der Völkergemeinschaft ist. Beide Staaten erlebten nach dem Ende der marxistischen Diktatur chaotische Anfangszeiten mit dem Versuch der Selbstfindung und der Suche nach politischer und wirtschaftlicher Orientierung. Entscheidendes Ereignis für Russland war der Beginn der Präsidentschaft Putins; für die Ukraine war die Maidan-Revolution eine entscheidende Wegmarkierung mit dem Willen eines Neuanfangs. Beide Staaten entwickelten sich in diametral entgegengesetzte Richtungen. Russland erlebt die Neuauflage des totalitären Systems, einer entideologisierten Diktatur, aufbauend auf der historisch begründbaren Größe und scheinbaren Allmacht Russlands, während in der Ukraine der Weg nach Westen eingeschlagen wird mit der Würdigung demokratischer Werte und dem festen Entschluss, der Korruption den Kampf anzusagen und demokratische Verhältnisse zu etablieren. Diesen Weg in die Freiheit konnte man in den letzten Jahren miterleben: in Kiew, in Lwiw (Lemberg), in Odessa, in Charkiw, in Dnipro u. a. Es war wie ein Erwachen nach langer, quälender Nacht und ein Aufbruch in eine befreite Zukunft. In allen Bereichen war diese Zukunft greifbar, in der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, der Bildung, der Medizin, des Sports und, das Wichtigste, im Bewusstsein der Menschen. Und eben das ist es: Die Schule der Freiheit unmittelbar vor den Toren Russlands! So sprach Putin nach dem Einmarsch am 24. Februar 2022: „Wir fühlen uns bedroht; nicht wir haben die Ukraine sondern die Ukraine hat uns angegriffen.“

In Putins wunschgesteuerten Bewusstsein, in dem er unablässig die Realität neu definiert und interpretiert, scheinen zwei Ziele festgeschrieben: Russland zu seiner eigentlichen Bedeutung zurückzuführen (immer die damalige UdSSR vor Augen) und sich jeder Bedrohung aus dem Westen zu erwehren (die Ukraine ist ihm der Inbegriff subversiver Absichten). Seit dem 2. Tschetschenienkrieg ist klar, mit welcher Brutalität und menschenverachtenden Rigorosität er seine Ziele verfolgt und auch in Syrien und der Zentralafrikanischen Republik (mit jeweils mehreren tausend Toten) stellte er jenen Zynismus und jene Gewissenlosigkeit unter Beweis, die sich auch jetzt im Krieg gegen die Ukraine bewahrheiten. Weil er bei der Durchsetzung seiner Ziele blind wird gegenüber Anstand, Moral, und zivilisatorischen Normen und die menschlichen Aspekte völlig außer Acht lässt, wird er es nicht schaffen, ein großer Staatsmann zu werden. Wenn wir an Peter den Großen denken, sind unsere Gedanken in Petersburg, in der Eremitage, der Kathedrale „Peter und Paul“ und der so prachtvollen Isaak Kathedrale. Die Bauwerke spiegeln die Größe einer Epoche, spiegeln die Ideen und das Wirken bedeutender Menschen. Wie wird es sein, wenn später die Rede sein wird von Putin? Es wird Schweigen sein und unweigerlich werden die Gedanken bei den Toten verharren, immer im Blick die mit Blut getränkte Erde in Butscha. Putin, der Totengräber; der Totengräber aber auch der russischen Kultur, der russischen Seele.