Wer am politischen und militärischen Ziel Putins noch zweifelt, der möge die allabendliche Propaganda des russischen Staatsfernsehens verfolgen in der die Ziele unmissverständlich lautstark und fordernd definiert werden: Entnazifizierung der Ukraine und ihre Eingliederung in den Bestand der russischen Föderation. Die Deutschen hatten sich seiner Zeit eine griffige Formulierung für ein solch erbärmliches Vorgehen zurechtgelegt: „Heimholen ins Reich!“ Damit würde die Ukraine aufhören zu existieren; sie verlöre ihre Identität, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre Seele. Was die ukrainischen Ostgebiete betrifft (Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson) ist dieser Schritt in den russischen Schulbüchern bereits vollzogen.

Um das Ziel, die ganze Ukraine zu annektieren, hat Russland in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet und hat sich in Syrien und Afrika mit ihrem rüden und gewissenlosen Einsatz auch und besonders gegen zivile Einrichtungen (Schulen, Krankenhäuser, Ziele der Infrastruktur). seiner militärischen Stärke vergewissert. Auch Georgien darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Dies alles geschah unter billigendem Zuspruch des Westens, wobei der Zuspruch mit einem ständigen Ausbau der Geschäftsbeziehungen untermauert wurde. Während der Westen auf wirtschaftlichen Profit setzte und seine zunehmende Abhängigkeit von Russland geschehen ließ, baute Russland an seiner politischen, vor allem militärischen Macht. Die Kompetenz des Westens versagte in der Einschätzung des Mannes, der seit Beginn seiner Präsidentschaft die Geschicke dieses Großrussischen Reiches zu verantworten hat, Wladimir Putin.

Was ist das für ein Mann, vor dem der Westen zittert, auf den alle Augen der Staatenlenker gerichtet sind, dem sich schwache und schwankende Charaktere andienen, um ein Hauch von Größe zu erhaschen, der ein ganzes Volk in Sprachlosigkeit versetzt, entweder aus Angst oder aus Opportunismus? Er ist kein großer Staatsmann, doch gleichwohl ein Mann, der sich vorgenommen hat, in der Geschichte Spuren zu hinterlassen. Er ist ein Mann, der gelernt hat, Größe zu inszenieren und gelernt, alle Mittel der Macht nach Belieben einzusetzen. Die Methoden der Macht hat er verinnerlicht in einer Zeit, in der er als Geheimdienstoffizier ausschließlich in den Kategorien der Größe, der Intrige und der subversiven Zielsetzung gedacht hat, in der sein Gewissen den machterhaltenden Methoden zum Opfer gefallen ist. Er kennt nur Sieg und Erfolg und beides heiligt seine Mittel. Er weiß, seine Mittel einzusetzen und er weiß genau, wie der Westen darauf reagiert. So verhält er sich wie ein Pokermeister, der ständig Einblicke hat in die Karten seiner Gegner. Wir alle haben den Großmeister gesehen, wie er durch beeindruckend hohe Türen geht, an zackig salutierenden Leibwächtern vorbei, wie er an überlangen Tischen seine Gesprächspartner demütigt, wie er ungeniert seine Lügen in der Welt verbreitet, Lügen, und das weiß er, die in monotoner propagandistischer Wiederholung so vielen zur scheinbaren Wahrheit werden.

Im Grunde ist Putin ein großspuriger, kleinherziger Feigling. Er lebt und agiert im Schutz eines undurchdringlichen Sicherheitsapparates. Die Ängste, die er unablässig im In- und Ausland schürt, vermitteln ihm das Gefühl der Stärke, aus dem Leid, das er so unendlich vielen Menschen zufügt, zieht er den Nektar der Unangreifbarkeit und der Macht. Wie ein Kind liebt er in Manövern das Spiel mit dem Krieg, bedient mit Genugtuung die Knöpfe, mit denen er den Weg frei gibt für Zerstörung und Tod bringende Bomben und Raketen. Er kennt das Spiel; er kennt die Wirkung seiner Mittel, er weiß, wie es geht, Feuer zu legen ohne dabei selbst in Gefahr zu geraten; er kalkuliert genau die Möglichkeiten eines Krieges, nicht weniger die Mittel der Propaganda – niemand setzt sie hemmungsloser ein als er. Gern stellt er sich unter den Anspruch kirchlicher Absolutheit; ikonenhaft hängt sein Portrait in den Kirchen und jeder weiß um seine Nähe zum Patriarchen und Kirchenoberhaupt Kyrill, der in den Siebzigerjahren selbst als KGB-Agent in der Schweiz tätig war.

Nein, er wird kein Land angreifen, von dem er Gegenwehr zu erwarten hat, das ihm in seiner Einschätzung zur Gefahr werden könnte. Politik versteht er wie ein Spiel; nüchternes Kalkül und instinktives Abwägen bestimmen maßgeblich sein Handeln und entscheiden über seinen Spieleinsatz. Auch dem Kleinsten verleiht ein Amt Flügel; das lernte er schon als ein Mann des Geheimdienstes kennen. Jetzt aber, wo er Präsident ist, sieht er die Fülle seiner Möglichkeiten, ja, er empfindet sie gar als Auftrag, wenn er an große Staatsmänner wie etwa an Peter den Großen denkt. Er kommt ja selbst aus einer Zeit, in der er Größe und Macht als Integralen Bestandteil seines Staatsverständnisses kennen gelernt hat. Jetzt liegt es an ihm, Macht und Größe wieder herzustellen. Mit welchen Mitteln könnte er dies besser erreichen als mit jenen, die ihm beim Geheimdienst so vertraut und selbstverständlich geworden sind. So wurde ihm bei seiner Zurechtlegung der Geschichte klar, dass die Ukraine Teil von Russland werden müsse. Janukowytsch, der als Folge der Maidan-Revolution nach Russland geflohen war, hatte ja bereits für eine militärische Schwächung der Ukraine gesorgt, sodass es ein Leichtes sein müsse, die Ukraine einzuverleiben. Er stellte sich vor, in Kiew einzumarschieren, den Präsidenten abzusetzen (wie auch immer) und dann auf dem Maidan die große Rede über die wiedergewonnene Freiheit zu halten. Die Zeit bis zum Einmarsch nütze er, die möglichen Reaktionen des Westens auszuloten. Trotz des für alle sichtbaren Aufmarsches mit unzähligen Panzern und militärischem Gerät war vom Westen, war von Europa nichts anderes zu hören als sich gegenseitig übertrumpfende Vermutungen und Befürchtungen. Was wird er tun? Viele Staatsvertreter kamen zu ihm, einer nach dem anderen; sie baten um Einvernehmen und Verständnis, zogen alle Register der Diplomatie, er aber demütigte sie. Kein Wort erreichte ihn! Er aber wusste Bescheid, man würde ihm nicht ins Gehege kommen. Am 24. 02.2022 war es so weit.

Ein Jahr ist vergangen und es ist immer noch Krieg. Das Land der Ukraine ist großflächig zerstört, über 100 000 ukrainische Soldaten und Tausende Zivilisten sind tot. Alles, was länger dauert, unterliegt der langsam fortschreitenden Gewöhnung. Aber auch das ist eine Erfahrung, auch die Empathie scheint Grenzen zu haben. Wer Vorschläge macht über das weitere Vorgehen, sollte sich die Mühe einer eingehenden Analyse machen und sollte jeden Gedankenansatz bis zu seinem Ende verfolgen.

Wie ist die Sichtweise Putins? Wer meint, wir wüssten es nicht, der täuscht sich; vielleicht aber will er es gar nicht wissen. Wie oben bereits erwähnt, das russische Staatsfernsehen verkündet es allabendlich: „Die Ukraine hat kein Recht zu existieren. Sie ist und bleibt ein Teil Russlands!“ So die Propaganda, auf die Putin „sein“ Volk eingeschworen hat. Das russische Volk hat über Jahrhunderte schweigen und leiden gelernt, sollte es stärker sein als die Menschen im Westen, die sich, obwohl sie nicht beteiligt sind, bereits augenfällig der Gewöhnung hingeben? Putin wird nicht aufgeben, das entspräche nicht seiner Überzeugung und seiner charakterlichen Einstellung. Er weiß, dass ihm die Zeit in die Hände spielt, dass die Bereitschaft des Westens, die Ukraine militärisch zu unterstützen vermutlich nicht unbegrenzt sein würde und er weiß, dass Russland in diesem Krieg hinsichtlich seines Territoriums nichts zu befürchten hat. Putin führt Krieg auf fremden Boden; was sollte er zu befürchten haben? Den Tod der Soldaten? Gewiss nicht; er entlastet sich mit Auszeichnungen und Ehrenbekundungen, die er freimütig verteilt. Den Tod der Söldner? Warum denn, sie säßen doch ohnehin im Gefängnis. Es interessiert ihn nicht. Den Westen aber hält er in Schach durch lautstarke Propaganda und regelmäßige Drohgebärden. Er weiß, wie der Westen tickt. Der verhaltene Fingerzeig auf die Atomwaffe zeigt Wirkung ohne jeden Gewöhnungseffekt. Er scheint ein ebenso einfaches wie sicheres Mittel, sich den Westen vom Hals zu schaffen.

Die Sichtweise des Westens? Sie ist nicht so einfach darzustellen wie die Sichtweise des Aggressors, denn sie ist keineswegs einheitlich und eindeutig. Warum eigentlich nicht, geht es doch um den elementarsten Wert des im Westen entschieden vertretenen demokratischen Verständnisses, es geht um die Freiheit, die hier verteidigt werden soll, manche sagen: „verteidigt werden muss“, andere sind zurückhaltend, wiederum andere sind nur betroffen. Man ist sich nicht einig: Ist der Angriff Russlands gegen die demokratischen Werte Europas gerichtet? Ist es lediglich ein Kampf der Ukrainer für ihre Identität, für ihre Freiheit? Große Uneinigkeit besteht darin, inwieweit die Freiheit der Europäer überhaupt bedroht ist, wobei die Blicke mit spürbarer Ängstlichkeit auf Putin gerichtet sind. Das Für und Wider der Freiheit spielt sich bei nicht wenigen außerhalb ihres Bewusstseins ab, zumal sie glauben, sie zu besitzen. Ein weiteres Merkmal der Demokratie ist die Meinungsfreiheit und diese zeigt gerade in diesen Zeiten ein komplexes Bild der Meinungsvielfalt. Bevor wir diesen Gedanken weiterverfolgen, versuchen wir doch zunächst den bisherigen Verlauf des Krieges zu skizzieren:

Am 24.02.2022 beginnen die Luftangriffe auf ukrainische Städte, darunter Kiew, die Hauptstadt. Die schon Tage zuvor immer wieder gezeigten russischen Panzer, die an den Staatsgrenzen der Ukraine in langen Schlangen lauern und einen Eindruck geben von der demoralisierenden Übermacht der Russen, diese Panzer setzen sich in Bewegung, Richtung Kiew. Dort wird versucht, den Präsidenten zu ermorden und alles für einen schnellen Sieg vorzubereiten. Beides gelingt nicht. Die Stadt Charkiw, diese lebendige Universitätsstadt, wird bombardiert, großräumig zerstört und von den Russen eingenommen. Darüber hinaus verzeichnen die Russen im Umfeld dieser strahlenden Metropolen große Landgewinne; diese Gebiete halten sie mehrere Monate besetzt. Was das bedeutet, erfährt die Weltöffentlichkeit erst nach der erfolgreichen Rückeroberung durch das ukrainische Militär. Unvergessliche Bilder und einprägsame Berichte von Tötung und Ermordung, von Folter, Vergewaltigung und Plünderung, von Massengräbern und Vandalismus zeugen von einer menschenverachtenden Ideologie und einer zivilisatorischen Verrohung unvorstellbaren Ausmaßes. Die Rückeroberung großer Gebiete bis an die Grenzen von Luhansk und Donezk war nur mit den Waffen des Westens möglich. Auch in diesen befreiten Gebieten waren deutlich die Spuren russischer Willkür und niedrigster Gesinnung erkennbar. So erfuhr man, dass Mütter und Kinder zwangsweise nach Russland deportiert wurden und während der Besatzungszeit alle ukrainischen Merkmale aus dem Alltag verbannt wurden. Was den Kriegsverlauf angeht, sind bis dato zwei Schlussfolgerungen unzweifelhaft: Mit westlichen Waffen gelingt es dem ukrainischen Militär, die Oberhand zurückzugewinnen. Zum anderen aber ist deutlich, dass es die Ukrainer allein nicht schaffen, sich der russischen Übermacht zu erwehren. Das sind unbestreitbare Feststellungen, die bei allen weiteren Überlegungen nicht außer Acht bleiben dürfen.

Die Auseinandersetzung darüber, ob die Ukraine auch weiterhin militärisch unterstützt werden soll, vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen Angst und Mut, zwischen der Angst etwas zu verlieren und dem Mut, etwas zu gewinnen bzw. zu bewahren. Bei jeder Veränderung, bei jeder Unruhe, die von außen auf uns einwirkt, greift die Angst um sich, die Ruhe unseres ungestörten Zeitverbringens könnte gestört werden, die Gewohnheiten, die wir so heiß und innig lieben, könnten verloren gehen. Grund der Angst ist das rechtswidrige, scheinbar unkalkulierbare Verhalten Putins. Dass man sein Verhalten im Westen so einschätzt, ist gewollt und ist Bestandteil seiner Demagogie und seiner Propaganda. Er ist Circus-Direktor und Dompteur und nur, weil er alle Regeln missachtet, sind alle Augen ängstlich auf ihn gerichtet. Welche Tricks wird er jetzt anwenden? Was zieht er jetzt aus der Tasche? Immer, wenn das Wort Atom in den Raum tönt, zucken wir zusammen. So hat uns Putin immer im Griff; es bereitet ihm eine Lust, uns in der Manege herumzuführen.

Es ist erstaunlich, zu sehen, was Angst und Ängstlichkeit mit dem Menschen machen. Die Angst bewirkt den völligen Verlust an rationalem Denkvermögen. Warum ist das so? Weil vor dem Hintergrund der Apokalypse alle Argumente zerbröseln, zunichtewerden. Man kann angesichts des Endgültigen nicht mehr diskutieren, die Apokalypse wird immer Recht behalten. Dennoch gibt es einen Lebenswillen, der auf Rationalität und Zuversicht gründet. Es gibt eine Golden Gate Bridge (trotz Erdbebengefahr), es gibt das One World Trade Center in New York (trotz terrorostischer Gefahren), Wer hätte Bedenken, einen Kaffee in der163. Etage des Burj Khalifa (Dubai) zu trinken? (Vertrauen in die Ingenieurskunst). D.h. Rationalität beinhaltet die Kunst, Risiken einzuschätzen und die Zuversicht vermittelt die Kraft, mit dem Risiko zu leben. Ein Leben ohne Risiko gibt es nicht! Jedes Risiko ausschließen zu wollen, bedeutete lebens- und handlungsunfähig zu werden.

Jetzt, wo die Frage der militärischen Unterstützung im Raum steht, stellen wir fest, dass diese Frage allzu schnell In der moralisierenden Ausschließlichkeit von „gut“ und „böse“ beantwortet wird. Viele finden es gut und richtig; andere lehnen alles ab, was an Krieg erinnert, weil sie Frieden und alle Vorzüge der Freiheit haben wollen; sie denken nicht darüber nach, was zum Erhalt von Frieden und Freiheit nötig ist. Allerdings besteht die Gefahr, die ablehnende Haltung zu schnell zu verurteilen. Vielleicht gelingt es, dieser Frage des moralischen Prinzips auf den Grund zu gehen. Die Rede ist von Panzern. Allein der Versuch, zwischen Abwehrpanzern und Kampfpanzern zu unterscheiden, zeigt, welchen Einfallsreichtum wir bemühen bei dem Versuch, uns zu rechtfertigen. Der Panzer, machen wir uns nichts vor, ist eine Maschine um zu töten. Angesichts des derzeitigen Krieges in der Ukraine fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass ein Terrorist in eine Schule eingedrungen ist, um dort einen Schüler nach dem anderen zu erschießen. Wären wir nicht froh, eine Waffe zu haben, die es ermöglicht, diesen Eindringling festzunehmen, ihn notfalls zu erschießen? Kaum jemand käme auf die Idee, mit diesem Terroristen verhandeln zu wollen. Das Wesen der Dialektik vermittelt uns die Einsicht, dass nicht alles auf dieser Welt in das moralische Raster von gut und böse einzuordnen ist. In der altgriechischen Literatur wird dem Problem der menschlichen Tragödie große Bedeutung beigemessen und zwar dem Umstand, dass der Mensch in Situationen geraten kann, in denen er, gleich wie er sich entscheidet, schuldig werden muss. In der Psychologie versucht man diese Situation durch folgendes Beispiel zu verdeutlichen: Ein LKW-Fahrer ist in seinem Führerhaus eingeklemmt Der LKW brennt. Auch von außen lässt sich die Türe nicht öffnen. Ein hinzukommender Polizist versucht alles, doch er schafft es nicht, den Fahrer zu retten. Seine Kleider beginnen zu brennen. Der Polizist hat eine Pistole – er überlegt… Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass durch eine geeignete und zeitgerechte militärische Unterstützung zahlreiche Menschen gerettet werden könnten. Was empören muss, ist, dass die Ängstlichkeit als Ursache der erheblichen zeitlichen Verzögerung des militärischen Beistandes schließlich als Besonnenheit hingestellt wird. Mit dem „vertraut mir einfach!“ überbietet der Kanzler die Arroganz seiner Vorgängerin, die immer wieder ihr Handeln als alternativlos verteidigt hat.

Immer wieder betonen wir, insbesondere der Kanzler, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe. Was veranlasst uns, eine solche Aussage zu treffen? Mag sein, dass wir im Inneren der Überzeugung sind, dass wir im Falle eines verlorenen Krieges mehr als nur den Krieg verlieren, nämlich unser Selbstverständnis, welches sich auf die demokratischen Werte bezieht, insbesondere auf die Freiheit, ohne die wir uns ein Leben nicht vorstellen können. Putins Krieg richtet sich gegen die Freiheit und wir lassen keine Gelegenheit aus, das zu betonen. Wenn es aber darum geht, diese Freiheit zu verteidigen, dann zögern wir, insbesondere der Kanzler. Hat uns die Freiheit, von der wir und mit der wir leben so bequem gemacht, dass wir nicht mehr wissen, was zu tun ist, sie zu verteidigen? Sind wir noch fähig, den besonderen und unschätzbaren Wert der Freiheit zu erkennen, als einen Wert, ohne den ein Leben nicht lebenswert ist? Hier also geht es um den Mut, den wir aufbringen müssen, unsere Freiheit zu verteidigen.

Die Ukraine kämpft gegen einen Aggressor, der sich wie ein Dieb in der Nacht eingeschlichen hat, der dem Menschen die Freiheit raubt, der alle Regeln missachtet und nicht davor zurückschreckt, die Menschen zu töten. Wir, die wir um den Wert der Freiheit wissen, stehen da und schauen zu, wie Tag für Tag Menschen sterben. Wir sind zwar überzeugt, dass Putin den Krieg nicht gewinnen darf, doch müssen wir auch den Mut haben, zu sagen, warum uns das so wichtig ist. Immer wieder stellen wir fest und beklagen, dass Putin es ist, der das Geschehen diktiert, der über den Verlauf des Krieges entscheidet. Während er dem Größenwahn verfallen ist und irgendwelche illusionäre Ziele verfolgt, unter Missachtung aller zivilisatorischen Regeln, muss es dem Westen doch darum gehen, das wertvolle Gut der Freiheit zu bewahren und es zu verteidigen. Es passt nicht zusammen, wenn wir einerseits sagen, Putin dürfe den Krieg nicht gewinnen, andererseits aber argumentieren, wir dürften uns nicht in den Krieg hineinziehen lassen. Niemand will ein unbesonnenes, leichtfertiges Handeln! Doch die Ankündigung von Panzern für das dritte Quartal 2024 kann nicht als besonnen gelten. Es scheint uns das Reden so leicht zu fallen, weil es nicht mit Taten unterlegt ist. Was hält uns davon ab, mutig und entschlossen zu bekennen, was für uns unverzichtbar ist? Warum warten wir auf die Vorgaben von Putin? Warum sollte immer der Aggressor die Spielregeln vorgeben? Warum definieren nicht wir rote Linien, die wir nicht überschritten sehen wollen? Es ist schon eine seltsame Konstellation: Einerseits stellen wir fest, dass die Ukraine dabei ist, unsere Freiheit zu verteidigen, andererseits argumentieren wir, wir dürfen in diesem Krieg keine zu eindeutige Stellung beziehen. In einem kürzlichen Interview sagte Chodorkowskij. Der Westen habe vergessen, dass man bei der Verteidigung der Freiheit auch bereit sein müsse, sein Leben zu riskieren. So hoch also ist der Wert der Freiheit einzuschätzen. Das scheint dem Westen nicht mehr bewusst zu sein, obwohl er doch im Iran und in vielen autoritären Staaten sieht, wie es ist, ohne Freiheit leben zu müssen und wie teuer es ist, sie zu erkaufen.

Ich hatte gefordert, ins Gespräch gebrachte Gedanken zu Ende zu denken. Mit den folgenden Ausführungen versuche auch ich das zu tun. Immer wieder fragen wir uns, wann der Krieg wohl zu Ende sein wird und wie er zu einem Ende finden könne. Die Antwort ist ebenso einfach wie schmerzlich. Ich berufe mich dabei nicht nur auf die anfangs erwähnte allabendliche Propaganda im russischen Staatsfernsehen. Ich glaube Putin und seine Beweggründe zu kennen, nachdem ich mich mit der Psychologie des Geheimdienstoffiziers Putin eingehender befasst habe. Zwei Dinge kann, will und wird er nicht akzeptieren: Niederlage und Verrat. Den Untergang der UdSSR hat er als Niederlage empfunden, als bleibendes Trauma lebte dieses Ereignis in ihm fort. Jeder Politiker, der ihn seit 1990 erlebt hat, konnte erfahren, wie er sich trotz dieses Traumas ruhig, beherrscht und kontrolliert verhielt und wie überlegt und zielstrebig er seine Arbeit verrichtete. Der Krieg gegen die Ukraine war lange geplant, allerdings war die Einverleibung der Ukraine nicht als Krieg vorgesehen. Verwöhnt durch den schnellen Erfolg bei der Annexion der Krim und das relative Stillschweigen des Westens ging Putin von einem Husarenritt aus mit überfallsartiger Besetzung Kiews, dem Ausschalten der ukrainischen Regierung und einer großen Sieges- und Befreiungsrede auf dem Maidan.

Dass es nicht so kam, war für Putin eine Überraschung, nicht weniger eine Enttäuschung. Er musste umdenken. Vor allem wurde ihm mit zunehmender Zeit klar, dass er in der Ukraine nicht der große Befreier sein wird; er wird als Gegner, als Feind, als Okkupator empfunden, also ist es Krieg und ihm wird klar, dass er nicht zurück kann. Anfangs sieht es gar nicht chancenlos aus: weite Gebiete um Kiew sind besetzt und große Bezirke östlich von Charkiw bis Luhansk werden schon von ihm kontrolliert. Doch dann treffen in der Ukraine neue Waffen ein und nach und nach muss er die besetzten Gebiete wieder aufgeben. Mit diesem Rückzug hat er nicht gerechnet. Er muss etwas tun, diesen Rückzug zu stoppen. Was ihm auf dem Schlachtfeld nicht gelingt, muss er formal auf der vorzeigbaren Landkarte vollziehen und damit zum Ausdruck bringen: Es kann kein Zurück geben!! Er annektiert Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, obwohl er diese Gebiete keineswegs zur Gänze kontrolliert. Er setzt sich damit selbst unter Zugzwang. Obwohl ihm schon mehrfach klar geworden ist, dass sein ursprüngliches Vorhaben, die Ukraine zu russifizieren, nicht so einfach zu realisieren ist, agiert er immer entschlossener und hält verbissen an seinem Plan fest. Schon längst hat er begonnen, seine Erzählung zu ergänzen, zu verfeinern und mit neuen Argumenten auszustatten, um sie seinem Volk glaubwürdig vermitteln zu können. Er beschwört sein Narrativ mit derartig hintertriebenem Eifer, dass er sich selbst in der gezeichneten Opferrolle wiederfindet. Der Westen ist verantwortlich für den Krieg; dieser würde versuchen, von der Ukraine aus Russland zu zerstören. Der Außenminister Lawrow spricht gar davon, dass der Westen in Bezug auf Russland eine Endlösung anstreben würde. Nachdem diese Spezialoperation in der Anschauung Putins zu einem Krieg geworden ist, einem Krieg des Westens gegen Russland, wie sollte Putin ohne Gesichtsverlust diesen Krieg beenden wollen? Wiederholt hat er sich selbst Rückzugsmöglichkeiten verbaut und hat zu keiner Zeit Ansätze zur Deeskalation erkennen lassen. Der Westen ist der Angreifer; wie könnte man Schlichtungsversuche anders als ein Eingeständnis der Schwäche verstehen? Putin will keine Gespräche, er will keine diplomatische Lösung, er will den Erfolg! Dafür ist er bereit, einen langen Krieg in Kauf zu nehmen.

Die Länge des Krieges birgt die Gefahr, dass der Westen kriegsmüde wird, dass die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen nachlässt. Irgendwann werden sich auch die „Wagenknechtereien“ bemerkbar machen. Es ist unsäglich, wie manche Menschen immer wieder penetrant versuchen, sich an ihrem rationalen Denkvermögen vorbei Geltung zu verschaffen. Es werden Argumente formuliert, gerundet in der Hitze ihrer Geltungssucht, erstarrt im Fixativ ihrer Unbelehrbarkeit. Sie alle fordern den Frieden in Gesprächsrunden, auf Demonstrationen, in öffentlichen Briefen, doch mehr und mehr entsteht der Verdacht, dass etwas Wesentliches verwechselt wird. Sie wollen keinen Frieden, sie wollen Ruhe bzw. einen Frieden, der sie endlich in Ruhe lässt, der ihnen die Möglichkeit gibt, endlich wieder anderes zu denken. Sie arbeiten mit der dümmlichen Formel, nach der kein Krieg besser sei als Krieg. Wegen Corona mussten sie schon zwei Jahre auf so vieles verzichten -endlich wieder normal leben! Man liest von den Folgen des Krieges in den Medien, man sieht die Bilder in den Nachrichten, doch mit der Zeit verlieren die Berichte und Bilder ihre Eindrücklichkeit und viele andere kommen hinzu: Erdbeben in der Türkei und in Syrien, Demonstrationen im Iran und in Israel, der rote Teppich der Berlinale, Der Karneval von Köln. Die Eindrücke verschwimmen und in der Gemengelage des Alltags verliert sich schließlich der Sinn für das Wesentliche. In einer solchen Phase der sich verändernden Wichtigkeiten ist man gerne bereit, allen Bemühungen zuzustimmen, die zum Ende des Krieges, zum Ende der beunruhigenden Nachrichten beitragen. Man will sich nicht mehr vereinnahmen lassen von irgendwelchen mühseligen Denkaufgaben, von Mitgefühlen und schwierigen Entschei-dungen. Man will Ruhe und glaubt, auch ein Recht auf sie zu haben. Man kann sich im Leben jedoch die Bedingungen nicht aussuchen und den Zeitpunkt selbst bestimmen, wann die Zeit ist für Ruhe und wann es notwendig ist zu handeln.

Jetzt und nicht irgendwie sonst steht unsere Freiheit auf dem Spiel! Vermutlich haben wir schon manche Zeit verloren, bei dem Bemühen, Hilfe zu leisten. Die Panzer, die helfen könnten, stehen noch in den Fabrikhallen. Warum beginnen auch andere Länder trotz gegebener Versprechen eine zögernde Haltung einzunehmen? Die Absichten Putins sind klar; auch, was Belarus und Moldawien betrifft, sind seine Vorstellungen bekannt geworden. Es kann nicht sein, dass die Ängstlichkeit unsere Vorstellungskraft lähmt, die uns sagt, wie ein Leben in Unfreiheit aussehen würde. Blicken wir doch auf den Vorgang der Kinderdeportation! Auf die Gesichter und die Methoden der Wagner Truppe! Blicken wir auf die Disziplinierung eines ganzen Volkes, auf die tägliche Propaganda, die Lügen und Verdrehungen. Es ist allein die Wahrheit und das Vertrauen, die frei machen und beides ist in Russland wie in allen autoritären Systemen der Macht zum Opfer gefallen.

Wir müssen aufwachen! Unsere Freiheit ist in Gefahr!
Um meine Gedanken zu einem Ende zu bringen, will ich ein wenig mit den Möglichkeiten spielen. Zunächst eine Hypothese Wochen lang blickten wir, der Westen auf die an der ukrainischen Staatsgrenze lauernden Panzer und alle arbeiteten sich an der Frage auf: wird er oder wird er nicht. Hätte der Westen in diesen Tagen eine rote Linie definiert, nach der Russland mit dem Eingreifen der NATO zu rechnen hätte, sollte er die Grenze überschreiten, es wäre vermutlich nichts passiert. Putin greift kein Land an, ohne sich seines Erfolges einigermaßen sicher zu sein.

Spätestens zum Zeitpunkt der Seeblockade, mit der Verhinderung der Ausfuhr von Weizen etc. und der Beeinträchtigung der Welternährung hätte der Westen eine rote Linie ziehen müssen. Die Ernährung der Welt stand auf dem Spiel. Der Westen erwies sich als für Putin berechenbar schwach.

Auch jetzt besteht durchaus die Möglichkeit einer roten Linie. Angenommen der Westen stellt ein Ultimatum: Innerhalb von 14 Tagen haben die Russen die Ukraine zu verlassen. Dem Einmarsch russischer Truppen liegt ein Völkerrechtsbruch zugrunde; Die weitere Tötung von Zivilisten und die weitere Zerstörung der Infrastruktur ist der Westen nicht bereit hinzunehmen. Im Sicherheitsrat wird eine Erklärung abgegeben, nach der von jeder militärischen Maßnahme auf russischem Boden abgesehen wird. Es ist kein Angriff gegen Russland! Die zuvor in Polen und den Baltischen Staaten stationierte Luftabwehr ist eine Sicherheitsmaßnahme gegenüber dem Versuch Russlands, den Krieg auf diese Länder auszuweiten. Die Ausschaltung des russischen Militärs in der Ukraine nimmt nicht mehr als 10 Tage in Anspruch. Zu wünschen wäre in Mandat der UN. So könnte der Krieg ein Ende finden. Das Völkerrecht wäre wieder hergestellt. Zugleich hätte die NATO Zeichen gegeben auch und nicht zuletzt in Richtung China.
Der Westen muss endlich zeigen, was ihm die Freiheit, was ihm die demokratischen Werte wert sind!!

Es war nicht Neville Chamberlain, der als Premierminister des Vereinigten Königreichs mit seinem unbedingten Verhandlungswillen zum Ende des Unrechtsregime der Nazis beige-tragen hat, es war Winston Churchill, der überzeugt war, dass man nur mit großer Entschiedenheit und Willensstärke das Böse stoppen kann. Er schmiedete eine militärische Allianz, die mit großen Opfern vor allem uns Deutsche vom NS-Regime befreit hat. Freiheit hat seinen Preis.