Ulm, 26. November 2010; anlässlich des 80. Geburtstages von Herrn Professor Dr. Heimpel

Vor fast 30 Jahren endete meine 9-jährige Kliniktätigkeit hier in Ulm. Mit gesammelten Erkenntnissen und Erfahrungen folgte ich meinem Lehrer, Herrn Professor Herfarth, nach Heidelberg. Die Ulmer Zeit hatte viel von dem, was ich mit meinen Ausführungen ins Bewusstsein zu rücken versuche. Was ich in dieser Zeit erfahren habe, war das stete Bemühen um medizinische Richtigkeit und um ärztliche Wahrhaftigkeit. Die wichtigste Erfahrung aus heutiger Sicht ist die, dass es notwendig ist, die Humanität in der Medizin wie ein olympisches Feuer am Brennen zu halten. „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen!“ Das Feuer muss brennen und dazu brauchen wir Lichtträger! Die heutige Feier gilt einem der großen, mutigen und unermüdlich tätigen Lichtträger der Medizin, sie gilt Ihnen Herr Professor Heimpel! Somit:

Hoch verehrter Herr Heimpel, sehr geehrte Gäste!
Was nur, um Gottes Willen, hat die Medizin mit Kunst zu tun? Auf der Suche nach Begriffen, die wir mit der heutigen Medizin assoziieren, fällt uns, wenn wir Glück haben, die Wissenschaft ein, was im Grunde kein Wunder ist, ist doch die Wissenschaft formelhaft als „evidence based“ und als ein lineares Leitlinienverhalten in unser Bewusstsein gemeißelt. Was fällt uns noch ein? Da wäre noch der technische Fortschritt, der für den Paradigmenwechsel verantwortlich zu machen ist: weg vom pseudoreligiösen Wunderglauben hin zur Ideologie der Allmachbarkeit. Als ob die Medizin den Menschen selbst erschaffen hätte. Wenn wir aber ehrlich sind, drängt uns der Alltag zu ganz anderen Assoziationen: wir denken an endlose Dokumentationen, an Codierung und Verschlüsselung, an Leistungsziffern und Budgetierung; kurzum, wir denken an Bürokratie und Kommerz. Noch vor etwa 30, ja 20 Jahren hätten wir entrüstet die Frage gestellt: was nur, um Gottes Wille, hat die Medizin mit Bürokratie und Kommerz zu tun? Ist es uns leicht gefallen, umzudenken? Es könnte sein, dass uns einst unsere Kinder fragen, wie das alles möglich war. Wie werden sagen müssen, wir haben die Tragweite nicht erfasst.

Während es uns, leicht fällt, das Befremden über die Bürokratie und den Kommerz in der Medizin zum Ausdruck zu bringen, will es uns heute kaum noch gelingen, den Begriff der Kunst dem Wesen der Medizin zuzuordnen. Was haben wir denn unter Kunst zu verstehen, zumal, wenn wir uns vom Eindruck der Modernen Kunst leiten lassen? Offenbart nicht gerade das Erscheinungsbild der Modernen Kunst mitunter das sonderbare Entstellt-Sein, das der heutigen Medizin so ähnlich oder gar vergleichbar ist? Es scheint sich um ein Zeit- und um ein gesellschaftliches Problem zu handeln, welches das Leben in einer ungestüm vorangetriebenen Versachlichung entzaubert und es seiner Vielgestaltigkeit und Sinnhaftigkeit beraubt. Was aber ist das Leben, das wir uns so selbstverständlich verfügbar gemacht haben? Das auf Algorithmen festgelegte Vorstellungsvermögen des heutigen Mediziners bedarf der Plausibilität in Form von Beispielen, um sich in die tieferen Schichten des Lebens einzudenken; versuchen wir es also damit:

Ein 84-jähriger Patient kommt mit einer oberen Gastrointestinalblutung zur stationären Aufnahme. Sein Allgemeinzustand ist altersentsprechend, aber was heißt das schon im Stadium der Blutung und einer beginnenden Kreislaufinstabilität. Die Zeit, in der eine Entscheidung getroffen werden muss, ist begrenzt. Wäre der Patient 34 Jahre alt, sähen wir keinen Grund zu zögern. Das Therapieredgement unterzöge sich wie von selbst den Automatismen vorgegebener Leitlinien. Immerhin führt das Alter von 84 Jahren zu einer gewissen Zurückhaltung hinsichtlich einer programmatischen Therapieverselbständigung. Es scheint, als rückte für kurze Zeit der Patient als Individuum ins Bewusstsein. Aber schon droht sich ein anderes Denkraster Geltung zu verschaffen: hat sich nicht die statistische Lebenserwartung dieses Patienten bereits erfüllt? Unser Denken ist ein kalkulierendes, kein verstehendes Denken. Wie auch der Zauberlehrling glauben wir, im Formelhaften das Leben erfassen und entzaubern zu können. Was wissen wir vom Leben dieses 84-jährigen Menschen? Was wissen wir von seiner inneren Uhr, von Lebensfreude und etwaiger Lebensmüdigkeit? Und schon wieder sind wir Gefangene von fertigen Schablonen und konstruierten Skalierungen. Glauben wir ernsthaft, Lebensqualität quantifizieren zu können? Wie sollen wir die 100% und wie denjenigen Wert definieren, ab dem wir dem Leben Qualität absprechen?
Hat das Leben eines Querschnittsgelähmten eine Qualität? Oder das Leben eines chronisch Kranken, eines Schlaganfall-Patienten, eines Contergan-Geschädigten oder werden die 100% von einem Zeitgeist in Beschlag genommen, dessen Gedanken ausschließlich um Fitness, Wellness und Antiaging kreisen? Vielleicht aber sind es wir selbst, die sich zum Richtmaß der Lebenswertigkeit machen und in einer vergleichenden Bewertung schnelle und eben subjektive Urteile fällen. Ganz unerwartet stoßen wir damit auf ein Phänomen, dass nämlich der absolutistische Einsatz wissenschaftlicher Richtigkeiten fast unbemerkt subjektive Freiräume eröffnet, was uns im Alltag kaum bewusst wird. Das Problem ist, dass die Medizinpraxis immer mehr von „evidence“ und „Korrektness“ beherrscht wird, während gerade der Teil, der unsere ärztliche Aufmerksamkeit fordert, ins Hintertreffen gerät. Hier scheint das auf, was wir in der Medizin unter Kunst zu verstehen haben. Es ist nicht die Kunst des Wissens, sondern die Kunst des Hörens und Verstehens; es ist die Kunst, in der unmittelbaren Zwischenmenschlichkeit, Richtigkeiten zur Wahrheit werden zu lassen. Kunst in der Medizin bedeutet demnach auch, dass der Wert eines Menschen nicht nur der ist, den wir einschätzend skalieren und dem einzelnen Menschen wohlwollend zubilligen, sondern der, den wir dem Menschen geben, durch Hinwendung, Aufmerksamkeit, Mitmensch-lichkeit und Wahrhaftigkeit. Wir sollten nicht so viel über Humanität reden, wir sollten sie still, unauffällig und ebenso überzeugend praktizieren. Haben Sie, verehrte Gäste, auch die Erfahrung gemacht, dass man besonders viel über das zu reden pflegt, was im Selbstverständnis gelebter Tugend verloren zu gehen droht? Verleiten die vielen Richtigkeiten, mit denen wir uns umgeben, nicht zu einem sehr fragwürdigen Ansatz, mit dem Leben umzugehen?

Ich fürchte allerdings, dass uns der Unterschied zwischen Richtigkeit und Wahrheit nicht mehr bewusst ist. Richtigkeiten beziehen sich auf das Faktische, auf das, was in der Sache jederzeit überprüfbar und beweisbar ist und unabhängig von der Individualität eines Menschen Bestand hat. Wahrheit hingegen ist stets persönlich; sie hat mit dem Individuum „Mensch“ zu tun, mit seiner Biografie, seiner ureigensten Lebensbe-stimmung und seiner unvergleichlichen Identität. Richtigkeiten, für sich genommen, haben keinen Wahrheitsgehalt, was bedeutet, dass sie sich am Menschen erst im Sinne der Wahrheit zu bewähren haben. Ein Parameter der uns so geläufigen Richtigkeiten ist die Zeit, die Lebenszeit. Doch sind die Würde und der Wert eines Menschen abhängig von der Zeit, die er lebt? So gesehen steht zu befürchten, dass manche Wahrheit auf den Altären der Richtigkeiten geopfert wird. Das ist kein Votum gegen die Wissenschaft und schon gar kein Freibrief für Behandlungsbeliebigkeit, im Gegenteil! Es ist die Erkenntnis, dass die wissenschaftlich basierte Evidenz eingebunden sein muss in eine verantwortete Partnerschaft von Arzt und Patient. Richtigkeiten sind allgemeingültig; verantwortete Partnerschaft ist nicht austauschbar.

Erkennen wir die Tragweite dieser grundlegenden Feststellungen? Es sind vier Punkte, auf die ich Sie aufmerksam machen will:

1.Eine Medizin, die sich auf allgemeingültige Richtigkeiten konzentriert, läuft Gefahr, den Menschen aus dem Auge zu verlieren; sie entfernt sich im Disput über das Faktische von der Wesenheit menschlichen Seins. Sie projiziert das Allgemeingültige auf die Individualität des Einzelnen; mutatis mutandis wird aus der Individualität etwas Allgemeingültiges. Bedenken wir den Wortursprung: Individuell kommt von – in dividere – nicht teilen; Individualität ist somit das nicht Teilbare! Das Allgemeingültige aber teilt, indem es den Menschen auf den Durchschnitt reduziert. Mit dem Durchschnitt aber erreicht man nicht das Leben, das sich in der Vielfalt und damit in der Eigenheit eines jeden einzelnen Menschen realisiert

2.Vertrauen bildet sich im Zusammenwirken fachlicher Kompetenz und ärztlicher Verantwortung (achten wir auch hier auf den Wortinhalt, nach dem es bei der Verantwortung um eine „Antwort“ auf das persönliche Anliegen des Patienten geht). Reduziert sich das Persönliche zugunsten des Allgemeinen, dann verlagern sich die vertrauensbildenden Energien auf das Faktische, etwa auf technische Erfolge und auf medizinische Randbereiche, nicht selten verbunden mit Eindruck erheischenden Selbstdarstellungen (von imposanten Internet Präsentationen über stilechtes Praxismobiliar hin zu klingenden Titeln, wobei ohnehin der Eindruck besteht, dass wir es mit einer Gesellschaft von Experten und Spezialisten zu tun haben). Das Wesen der Medizin wird mit der Fokussierung auf das Allgemeingültige entkernt und in die Peripherie der Effekte verschoben. Sie wird anfällig gegenüber dem Modischen und gegenüber der Ideologie des Machbaren. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an „Notes“ (natural orifice transluminal endoskopic surgery) (etwa die Entfernung der Gallenblase über das Rektum oder die Scheide). Es handelt sich dabei um eine Verbeugung der Chirurgie vor einem zweifelhaften, modischen Gesundheitsverständnis.

3. Medizin als reine Wissenschaft verliert ihre Verankerung im Zwischenmenschlichen Vollzug. Die gebündelten Richtigkeiten ebnen den Weg zu anonymisierten Indikationsprofilen und vereinheitlich-ten Handlungsvorgaben; denken Sie u.a. an „Leitlinien“ und „clinical pathways“. Mit dem immer deutlicher werdenden Trend zu einem normativen Medizinverständnis rückt die individuelle Einzelentschei-dung des Arztes immer mehr in den Bereich der administrativen Beurteilungsmöglichkeit. Die Medizin gerät in die Hände fremdbe-stimmender Kräfte, denen jedes Verständnis für medizinische Zusammenhänge fehlt. Es besteht die Gefahr, dass unter dem Deckmantel der Optimierung das Vertrauen durch Kontrolle ersetzt wird und schließlich ein Leistungsdruck entsteht, der mit der Beanspruchung durch zeitraubende Verwaltungstätigkeiten die Kluft zwischen Arzt und Patient immer weiter vertieft. Das Handwerkzeug der Kontrolle ist die Bürokratie; sie ist es schließlich auch, die Koordination und notwendige Regulation zur beherrschenden Direktive umfunktioniert. Die Medizin droht zum Fremdling im eigenen Haus zu werden.

4.Die Vereinheitlichung von Handlungsabläufen vor dem Hintergrund gesicherter medizinischer Erkenntnisse lässt eine Medizin nach dem Baukastenprinzip entstehen, gleichsam Kataloge der Richtigkeit. Verwaltung, Krankenkassen und nicht zuletzt die verbreitete Medien- und Internet-vermittelte Laien- bzw. Halbbildung befleißigen sich in recht eigenwilliger Deutung dieser einzelnen Steine und belegen sie mit jeweils unterschiedlichen Ansprüchen: Die Verwaltung zielt auf Budgeteinhaltung, die Kassen auf Kostenregulierung, der Patient auf Behandlungssicherheit. Diese Gemengelage wirkt per se kosten-treibend, können doch die Ansprüche letztlich nie ganz befriedigt werden. Die Bausteine werden aus ihrem Sinnzusammenhang gerissenen und jeder gebraucht sie nach eigenem Gutdünken. Sie werden einerseits als Waren gehandelt andererseits als Garanten der Sicherheit missdeutet, sind sie doch alle mit dem Gütesiegel wissenschaftlicher Richtigkeit versehen. Auf diese Weise entwickelt sich die Medizin zum Geschäft und zugleich wird auf diese Weise dem immer weiter wachsenden Sicherheitsbedürfnis Genüge getan. Der Laie, in völliger Verkennung der sich isoliert darstellenden Bausteine medizinischer Korrektness, kann nicht verstehen, dass es möglich ist, dass in einer Zeit, in der es gelingt, Extremitäten zu replantieren, ein Kind an einer Blinddarmentzündung stirbt. Das absolute Sicherheitsbedürfnis wird zum Kostentreiber, die Bürokratie zum tonangebenden Kassenwart der Medizin, der Arzt wird zum Getriebenen einer Politik, die ohnmächtig das ruderlos gewordene Schiff zu manövrieren versucht. Was steht, was stand am Anfang? Eine Medizin, die sich auf die Richtigkeiten besinnt und damit die Wahrheit, den Menschen, ihre eigentliche, sinnerfüllende Aufgabe aus dem Auge verliert.

Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, gibt es manche Aspekte, unter denen das heutige Erscheinungsbild der Medizin und des Gesundheits-wesens zu erörtern wäre. Etwa aus der Sicht des heutigen gesellschaft-lichen Gesundheitsverständnisses, das sich mehr an der Lebenszeit als an den Lebensinhalten orientiert und sich mehr mit Nahrungsergän-zungsstoffen beschäftigt als mit sinnbringender Lebensgestaltung. Oder aus der Sicht der heutigen materialisierten Lebenseinstellung, die jede Schicksalhaftigkeit von sich weist und an die Medizin mit einem nahezu unerfüllbaren Anspruchsdenken herantritt. Oder aus der Sicht der heutigen Gesundheitspolitik, der man die Einsicht wünschen möchte, dass mit buchhalterischen Mitteln und der Trivialgesinnung eines „animus numerandus“ keine wirkliche Reform zu bewerkstelligen ist.

Begnügen wir uns heute damit, die Rolle des Arztes noch ein wenig näher zu betrachten. Immer wieder ist die Klage zu hören, dass der Arzt Freiheiten verloren habe, dass ihn die überhandnehmende Bürokratie erdrückt und ihn an seiner eigentlichen Tätigkeit hindert. Das mag so sein und es ist wohl auch so. Doch, was soll Klage bewirken? Sie allein ändert nichts! Bestenfalls beschreibt sie einen Zustand, der beklagenswert ist. Beide Fragen, wie es dazu kam und wie etwas geändert werden kann, geben Anlass zu der Vermutung, dass sich hinter beidem ein falsches Verständnis von Freiheit verbirgt. Freiheit ist nicht etwas Selbstverständliches, nicht etwas, das sich gleichsam von selbst einstellt und auf das man ein Anrecht hätte. Es handelt sich hierbei um einen verbreiteten Irrtum, der unsere ganze Kultur gefährdet und der sie wehrlos macht gegenüber kurzlebigen, materiellen Bedürfnissen.

Freiheit will erworben, gelebt und verantwortet werden. Dabei geht es nie um die Freiheit selbst, sondern um den Beweggrund und das Ziel, dem sie dienen soll. Freiheit ohne ein „wofür“ ist wie eine kurzlebige, durchaus bunte Seifenblase. Doch es geht nicht um irgend ein beliebiges „wofür“, vielmehr geht es darum, wem die Freiheit dienen soll: dem Leben oder den eigenen Ansprüchen, dem Menschen oder dem eigenen Vorteil. Um diese Freiheit aber, die um die Wahrheit, um das Leben, um den Menschen bemüht ist, muss man sich kümmern, man muss sie sich erkämpfen, man muss um der Wahrheit willen bereit sein, Widerstand zu leisten. Freiheit ohne Wagnis erliegt schnell der Trägheit und geht unter im Strom des Alltäglichen.

Wir haben aufgehört von Berufung zu reden, wenn es um die Kennzeich-nung des Arztberufes geht. Berufung bedeutet: vom Leben zum Dienst am Leben in den Dienst gestellt zu sein. Albert Schweitzer sprach von einer Weltanschauung, die der Medizin verloren gegangen sei. Unter Weltan-schauung versteht er Lebensorientierung und er betont immer wieder die Ehrfurcht vor dem Leben. Gleiches drückt der heute bevorzugte Begriff der Authentizität aus, das Handeln also nach dem inneren moralischen Gesetz. Dies ist nur möglich in der Unabhängigkeit von äußeren Zwängen und fremdbestimmenden Kräften – und eben das ist Freiheit! Reinhold Schneider, eine heute kaum noch bekannte europäische Lichtgestalt, betitelt eines seiner Bücher mit „Pfeiler im Strom“. Jeder Arzt möge sich fragen, ob er Pfeiler ist oder Strom.

In philosophischer Terminologie bedeutet Authentizität das Handeln aus sich selbst heraus, aus der Wesenhaftigkeit des Inneren, aus den autochthonen Beweggründen der eigenen Ursprünglichkeit. Martin HEIDEGGER nennt den nicht authentischen Menschen den Uneigentlichen und er sagt, dass sich das Uneigentliche in der Öffentlichkeit des „man“ verliert. Ich zitiere aus seinem Buch „Sein und Zeit“: „…das Da-Sein ist von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen abgefallen und an die Welt verfallen.“ Nach HEIDEGGER stellt also das Nicht-Authentische eine Verfehlung des eigentlichen Seinkönnens dar.

Jean Paul SARTRE bezeichnet das Nicht-Authentische in seinen Abhand-lungen über das „Sein und das Nichts“ als „mauvaise foi“, was gleichbe-deutend ist mit der Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst. Man könnte sich auch der Beschreibung Rüdiger SAFRANSKIS anschließen und sagen, dass im Falle der Nicht-Authentizität die Evidenz eines reinen Inneren verloren gegangen ist (aus dem Buch: „Wie viel Wahrheit braucht der Mensch?“)

Das also meint Authentizität. Es hat mit der Identität, mit der im Selbst angelegten Bestimmung, mit dem im Selbst verborgenen Wesenhaften jedes einzelnen Menschen zu tun. In jedem Wesen eines Selbst liegt eine ihm zugehörige Bestimmung. Es beinhaltet die Polarität des Unveränderlichen, des schicksalhaft Vorgegebenen oder, wie Karl JASPERS sagt, des „Schonbestimmtseins“ einerseits und der Forderung nach freier und sehender Entscheidung andererseits. In der Authentizität verbirgt sich die Kraft der Überzeugung, der Echtheit und Glaubwürdigkeit. Auf diese Weise macht sie auf sich aufmerksam. Sie hinterlässt gleichermaßen eine Leuchtspur, ein Signal, eine Orientierung. Vielleicht erreicht sie im einzelnen keine umstürzenden Veränderungen, doch vermag sie mit ihrem Licht, mit ihrer Echtheit und ihrer Glaubwürdigkeit Zeichen zu geben und in diesem Sinne Vorbild zu sein. Ich zitieren noch einmal Safranski aus seinem Buch „Nietzsche“: „Die Achtsamkeit auf die Welt…des alltäglichen Lebens bedarf einer Einstellung, die den Ansprüchen und Verwicklungen des alltäglichen Lebens widerstreitet, denn dort sind wir zu stark verwickelt, eingewickelt von Pflicht und Gewohnheit, ängstlicher Rücksicht und Opportunismus, wir sind nicht gelassen“, nicht frei „genug, die Welt bei uns ankommen zu lassen.“

Diese kurzen philosophischen Einblicke erlauben uns nun, das Wesen des Arztberufes konkreter zu fassen. Es geht bei diesem Beruf um die Evidenz des Faktischen (sagen wir um die Evidenz des Wissens konkreter Zusammenhänge) und um die Evidenz der Wahrheit (sagen wir um die Kunst, Leben einzuschätzen, Leben zu achten, zu respektieren und Leben zu verantworten). Es hat den Anschein, dass wir mitunter so geblendet sind vom Umgang mit den Richtigkeiten, dass wir die Wahrheit oftmals nicht mehr erkennen. Es hat auch den Anschein, dass wir das konkrete Wissen so weit fragmentiert haben, dass es handlich wurde für die Aneignung durch die Administration und für die Vermarktung durch die sich ausbreitende Halbbildung. Es hat darüber hinaus den Anschein, dass Eitelkeit, Geltungsbewusstsein und Geschäftssinn die Medizin nicht selten zum Mittel egoistischer Zielsetzungen verfremden. Die mangelnde Verankerung des ärztlichen Bewusstseins in den Grundüberzeugungen des „Sein-Sollens“ macht die Medizin anfällig gegenüber jeder Art des „Sein-Wollens“ Die Richtung des „Sein-Sollens“ bestimmt das Leben in der Wahrnehmung der jeweils eigenen Bestimmung; die Richtung des „Sein-Wollens“ resultiert aus der Vordergründigkeit des Machbaren, des rein Konstruktiven. Im einen sind wir Diener, im anderen sind wir Knecht! Der Mensch kann sich knechten lassen vom Bedürfnis der eigenen Geltung; er kann sich knechten lassen vom Streben nach kommerziellen Vorteil; er kann geknechtet werden von den Vorgaben administrativer Sinnverlorenheit; er kann sich knechten lassen von der Beweiskraft evidenter Richtigkeiten.

Ist es nicht so, dass wir immer wieder auf die christlichen Grundwerte unseres Kulturschaffens verweisen? Ohne sich in theologischen Details zu verlieren und wohl wissend, dass sich unser ethisches Bewusstsein auf jüdische, christliche und gleichermaßen griechische Traditionen gründet, sei an ein Wort des Apostel Paulus erinnert: „So bestehet nun in der Frei-heit, zu der ich euch berufen habe!“ (Gal. 5.1) In diesem Satz verbirgt sich das Wesen einer lebendigen und wahrhaftigen Kultur. In diesem Satz verbirgt sich gleichermaßen das Prinzip wahrer Freiheit, nämlich dasjenige tun zu können, was um des Lebens Willen getan werden soll. Und schließlich verbirgt sich in diesem Satz der Auftrag, wahrhaftig, mutig und selbstlos Verantwortung zu übernehmen. Nichts anderes besagt das Goethezitat: „Was du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ In der Abfolge der Geschichte ist die Gesellschaft auf Vorbilder angewiesen und auf jeden einzelnen, der authentisch das Anliegen der Medizin vertritt. Es gilt, der Kunst in der Medizin wieder Geltung zu verschaffen, nicht als Selbstzweck, sondern als Dienst am Leben, als Dienst am Menschen. Wir brauchen Pfeiler im Strom.

Sie, sehr geehrter Herr Heimpel, sind und waren immer ein Vorbild und wir erkennen, dass Sie uns mit Ihren Überzeugungen an unsere Pflicht und an unsere Bestimmung mahnen, trotz aller Anfechtungen und Drangsale im Äußeren die Medizin authentisch und glaubhaft zu vertreten.

Prof. Dr. J. Horn