Die Ansprache des Herrn Bundespräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit wird als gelungen bezeichnet; eine staatsmännische Rede, sagt man. Immer wieder zitiert wird eine Passage, die mit der Feststellung endet, der Islam gehöre zu Deutschland. Um der Bedeutung dieser Aussage den richtigen Stellenwert zu geben, wird im Vorfeld noch einmal unmissverständlich auf die christlich-jüdisch geprägten Werte unserer Kultur verwiesen. Nun also gehört auch der Islam zu Deutschland; das allgemeine Lob über einen solchen Gedanken gilt dem Mut, ihn auszusprechen. Schon immer neigt der Deutsche dazu, sich von der großen und weltbewegenden Attitüde staatsmännischer Reden beeindrucken zu lassen. Es ist das Phänomen von Sonntagsreden, dass von einer Wirklichkeit gesprochen wird, die nicht wirklich ist bzw. sich nicht verwirklichen will; dass sie Lob und Anerkennung erntet, gerade weil sie sich in der Leichtigkeit des Unwirklichen und damit im unverpflichtend Gesagten aufhält.

Mit einer einfachen Frage jedoch gelingt es, hinter den Vorhang zu blicken. Es ist die Frage: „Warum sagt er das?“ Man lässt sich nicht blenden von der Wirkung des Gesagten sondern hinterfragt sein Zustandekommen. Zunächst fällt auf, dass das Jüdische ganz selbstverständlich dem autochthonen Kulturgut zugerechnet wird. Handelt es sich dabei um eine gelebte Wirklichkeit, um ein verinnerlichtes Bewusstsein oder doch eher um eine abstrakte religionsgeschichtliche Tatsachenbeschreibung? Gerade die christliche Kirche hat sich ja nicht gerade zum Anwalt der jüdischen Tradition gemacht und hat auch heute noch Probleme, die tiefen Verwerfungen aufzuarbeiten. Bekennen wir uns wirklich zu unseren jüdisch geprägten geistigen Wurzeln oder wird versucht, mit der Selbstverständlichkeit eines solchen Bekenntnisses die Last einer alten Schuld abzutragen? Es wird eine Wirklichkeit beschworen, die nicht wirklich ist, eine Wirklichkeit, die wir noch nicht zur Wirklichkeit gemacht haben. Solange dies nicht ist, verdient eine solche Feststellung nicht, in den Rang der Selbstverständlichkeit erhoben zu werden.

Das eigentliche Problem entsteht jedoch durch den pauschalierten und anonymisierten Gebrauch bloßer Begrifflichkeiten: das Jüdische, das Judentum, das Christliche, das Christentum, der Islam. Es sind Begriffe, die bestimmte Vorstellungen hervorrufen und zu abstrakten Festlegungen verführen. Undifferenzierte Assoziationen pflegen ihren eigentlichen Wahrheitsgehalt zu verschleiern. In dieser Form verfestigen sie sich allzu oft zu Vorurteilen und verursachen Trennung und Abgrenzung. Es geht nicht um den Menschen, sondern es geht darum, Recht behalten zu wollen und der Vorzüglichkeit des eigenen „Systems“ Geltung zu verschaffen. Die Geschichte der vergangenen zweitausend Jahre ist eine Gesichte der begrifflichen Isolation und der Herabwürdigung jedweder Andersartigkeit. In den Zeiten der Nazi-Herrschafft verlor sich das Einzelschicksal des Menschen in der dämonisierenden Begrifflichkeit: „die Juden“. Der Dämon der Verallge-meinerung entwertet den Menschen.

Nun scheint es, als ob wir uns hinter dem Begriff des Christlichen verschanzten, als ob dieser Begriff patent- oder markengeschützt sei und schon per se alle Attribute der Vorzüglichkeit beanspruchen könnte. Es herrscht die Vorstellung, dass sich eine Partei schon alleine wegen des initialen „C“ auf einen Glaubwürdigkeitsvorsprung und auf eine Gütegarantie beziehen könnte. Ist das unser Christentum, das wir stets so eilfertig zu verteidigen bereit sind? Christentum als bloße Begrifflichkeit? Könnte es sein, dass wir vor lauter rechthaberischer Begrifflichkeit schon verlernt haben, als Christen zu denken und als Christen zu handeln? Christentum ist nur dann Christentum, wenn es gelebt wird! Haben wir Grund und sind wir berechtigt, zu trennen und auszugrenzen, wenn es um den einzelnen Menschen geht? Grund hätten wir jedoch, die festgefahrenen und verfestigten Begrifflichkeiten aufzubrechen und sie im gegenseitigen Verstehen zugänglich und „gebrauchsfähig“ zu machen.

Wir hören nun, der Islam gehöre zu Deutschland. Kann diese Aussage wirklich etwas bewegen, wo doch die Vorstellungen über diese Religion so konfus, emotional und (zu Unrecht) negativ aufgeladen sind? Wir sehen diese Religion nur unter dem Aspekt des Fundamentalismus, der absurden Maskerade terroristischer Auswüchse, schließlich unter dem Aspekt der demonstrativen Religionsverneinung. Vor lauter Verzerrung sehen wir nicht das eigentliche Bild! Und schon beginnt im Kampf der Begrifflichkeiten die martialische Gegenbewegung unter dem Deckmantel des Christentums: Diskriminie-rung, Trennung, Ausgrenzung! Was für ein Christentum ist das? Wie können wir sagen, der Islam gehöre zu Deutschland, wo ihn kaum einer kennt? Wohl aber kennen wir die Menschen, die in ein Land kommen, das für sich beansprucht, christliches Gedankengut zu vertreten. Besser wäre es wohl, zu sagen: Alle, Juden, Moslems, Buddhisten, Hindus, einfach alle sind herzlich willkommen, jeder Einzelne! Nur eine Voraussetzung ist vonnöten: die gesellschaftlichen Spielregeln zu akzeptieren gleichsam als Gegenleistung für die Toleranz, die wir als Christen zu leisten bereit sind, für eine Toleranz, die einzig verdient christlich genannt zu werden. Die Voraussetzungen für ein Zusammenleben sind in den Grundrechten des Grundgesetzes niedergelegt: Artikel 2/1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Artikel 3/3: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Diese im Grundgesetz verankerte christliche Identität gilt es erst einmal zu leben bevor Angst entsteht, sie zu verlieren. Kann man verlieren, was man nicht hat?

Was also bedeutet dieser Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland“? Er ist eine begriffliche und dazu noch irreführende Plattitüde. Er impliziert insgeheim, dass wir Angst haben müssten, unsere Identität zu verlieren, eine Identität, die es erst noch unter Beweis zu stellen gilt. Der Satz müsste viel eher lauten: „Die vielen Moslems, die hier leben, gehören zu Deutschland!“ Die Identität als Christ zeigt sich nicht im Verwalten eines Begriffes als Ausdruck einer gefälligen Gebrauchsgläubigkeit sondern in einer gelebten Haltung der Toleranz und des Verstehens. Die Wahrheit liegt nicht in den Begriffen sondern im Umgang mit den Menschen!

Professor Dr. Johannes Horn