Die Medien haben etwas entdeckt, was sich vortrefflich zum Zündeln eignet. Friedrich Merz begeht Wahlbetrug. Das ist faktisch richtig; die Wahrheit ist es nicht. Immerhin eignet sich dieser Vorwurf, den Unterschied zwischen Fakten und Wahrheit deutlich zu machen. Weil aber die Wahrheit eine andere ist, sollte man mit dem Verwurf des Betruges zurückhaltend sein. Beim genaueren Hinsehen bleibt lediglich die Feststellung, dass er vor der Wahl etwas anderes gesagt hat, als er jetzt, nach der Wahl, zu tun gewillt ist. Ein Faktum ist eine Tatsache; sie ist unzweifelhaft, sie ist entweder richtig oder falsch, sie kann nicht diskutiert werden. In diesem Fall ist sie richtig. Die Wahrheit hingegen beinhaltet über das Faktische hinaus Inhalte, denen man sich verstehend annähern muss. Wahrheit hat immer mit dem Leben zu tun und ein Charakteristikum des Lebens ist das Werden, die Entwicklung. Zur medizinischen Einschätzung eines Menschen reicht die alleinige Feststellung seines Alters nicht aus; die Wahrheit reicht über das Faktische hinaus. Sie bezieht sich auf seine körper-liche und geistige Verfassung, auf sein Umfeld und seine soziale Eingebundenheit. So ist eine uns bekannte Redewendung entstanden: „Zur Wahrheit gehört auch…“ Man würde einem Menschen nicht gerecht, wenn man ihn nur nach seinem Alter beurteilen würde. Mit Richtigkeiten allein lässt sich das Leben weder beschreiben noch verstehen. Allein die Wahrheit eröffnet den Zugang zur Wirklichkeit des Lebens im Großen, wie auch zur Wirk-lickeit jedes einzelnen menschlichen Daseins.

Vor der Wahl sprach sich Friedrich Merz mit Nachdruck und voller Überzeugung: gegen weitere Schulden und für das Einhalten der Schuldenbremse aus, der Staat müsse mit dem auskommen, was er einnehme. Dieses Versprechen wurde in ein Zeitverstehen hinein gegeben, das sich in ihrem Grundsatz seit Jahrzehnten nicht verändert hat. Man konnte nicht vorhersehen, dass sich diese Bedingungen innerhalb kurzer Zeit so grundsätzlich verändern würden. Den ersten Hinweis in dieser Richtung gab die Rede von D.J. Vance bei der Sicherheitskonferenz am 15, Februar in München. Den Weg zur weiteren Gewissheit markierte die Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 25.02.2025. Bei der von den USA eingebrachten, moskaufreundlichen Resolution zum Krieg in der Ukraine, stimmten die USA gemeinsam mit China und Russland, gegen die sich enthaltenden fünf europäischen Nationen. Der Eklat im Weißen Haus am 28. Februar brachte schließlich endgültige Klarheit. Die Bande zwischen den USA und Europa sind zerrissen; die USA verfolgen geopolitisch eigene Ziele. Es macht keinen Sinn mehr, sich auf die NATO zu verlassen; Europa muss in Zukunft selbst für die eigene Sicherheit Sorge tragen.

Die Welt hat sich zwischen der Zeit vor der Wahl und der Zeit danach grundsätzlich verändert, wobei die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie in den USA zu beobachten sind, darauf hinweisen, dass es bei den „Friedensbemühungen“ der Vereinigten Staaten im Wesentlichen um eigene wirtschaftliche Interessen geht und dass die Art der Vorgehensweise Zweifel an dem demokratischen Verständnis der dortigen Regierung berechtigt sein lassen. Die in Deutschland laufenden Sondierungsverhandlungen zwischen der Union und der SPD müssen diese veränderte Situation im Blick behalten: es geht um die Ukraine, es geht um Freiheit und Demokratie, es geht um die äußere Sicherheit. Ist es Betrug, sich dieser aktuellen und gleichwohl akuten Situation zu stellen? Immerhin, es schlägt die Stunde der Medien, die – ihrer Bedeutung bewusst – bei jeder Gelegenheit den Vorwurf des Betruges anbringen. Sie sind geübt in der Methode der Verunsicherung und in ihrem Bemühen, Wunden für ihre berufseifrigen Finger zu suchen. Was die Europäische Union und ihre Sicherheit im Weltgeschehen angeht, hätten schon längst strategische Überlegungen angestellt und ein entsprechendes Konzept entwickelt werden müssen, doch nicht nur Europa, auch Deutschland verharrte jahrelang im bequemen Glauben, durch die Vermeidung und das Hinausschieben von richtungsweisenden Entscheidungen könnten Fehler vermieden werden. Es ist wichtig, zu handeln, zumal niemand weiß, was Trump letztlich im Schilde führt.

In den Sondierungsverhandlungen geht es darum, auszuloten, inwieweit es möglich ist, zwei durchaus konträre Weltanschauungen zu einer gemeinsamen politischen Agenda zu formen. Man sitzt zusammen und versucht zunächst, die nationale und gleichermaßen europäische Ausgangssituation unter Berücksichtigung der aktuellen Probleme und Dringlichkeiten möglichst realitätsnah zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund definieren die Parteien ihre Vorstellungen von den jeweils für erforderlich gehaltenen Vorgehensweisen. Beide Parteien sind angesichts der aktuellen Entwicklung überzeugt, dass eine neue Sicherheitspolitik in Europa und damit auch in Deutschland dringend erforderlich ist und dass die bisherigen militärischen Möglichkeiten bei weitem nicht ausreichen, den ganz aktuellen Bedrohungen Stand zu halten. Bei solchen Verhandlungen geht es zunächst um die Verständigung auf ein gemeinsames Ziel, in diesem Fall die äußere Sicherheit. In einem zweiten Schritt geht es um das Erreichen dieses Ziels. Schnell war die Union bereit, die Regularien der Schuldenbremse so zu ändern, dass in den nächsten 10 Jahren 500 Milliarden für die Aufrüstung zur Verfügung stehen. Ein nicht weniger drückendes Problem ist die nicht in Gang kommende Wirtschaft Investitionen sind dringend erforderlich und wenn schon der Ruf nach Investitio-nen unüberhörbar ist, warum nicht auch hier eine mutmachende große Lösung? Man einigte sich auf ein Sondervermögen von ebenfalls 500 Milliarden, um endlich auch die Sanierung der maroden Infrastruktur in Angriff zu nehmen.

Und schon juckt es den Medien in den Fingern: Auf der Titelseite der Frankfurter Sonntags-zeitung wird Zweifel laut: „Können wir und das alles leisten?“ Konkret heißt das: Können wir uns Frieden überhaupt leisten? Können wir uns die Reparatur der Dresdner Carolabrücke leisten? Die Reaktionen auf diese Beschlussfassung sind unterschiedlich. Während einige grundsätzlich anzweifeln, ob es möglich ist, mit Aufrüstung Frieden zu erreichen, weil sie ja schon jetzt die leidenschaftslose Bequemlichkeit einer unangefochtenen Ruhe genießen und sich andererseits nicht vorstellen können, wie bedrückend es ist, in einer Diktatur leben zu müssen. Andere wiederum beklagen es, den nachkommenden Generationen so viele Schulden zu hinterlassen. Diese Frage scheint berechtigt zu sein, doch muss sie sich der Gegenfrage stellen, ob es besser wäre, eine völlig marode Infrastruktur zu hinterlassen. Wenn zwischen beiden zu entscheiden ist, dann spricht vieles für die Schulden, denn jetzt getätigte Investitionen beflügeln die Wirtschaft, während sie zugleich die Sanierung voran-bringen. Es ist insgesamt eine kluge Lösung und ein gelungener Kompromiss, zu dem jeder etwas beigetragen hat. Allerdings handelt es sich um einen Kompromiss, der eine Änderung des Grundgesetzes notwendig macht. Dazu wären die Stimmen der Grünen erforderlich. Sie wollen dieser Vereinbarung nicht zustimmen. Es ist, als ob der Ampelgeist wieder aus der Flasche entwichen ist.

Glaubt man der grünen Parteispitze, dann sind es auch atmosphärische Störungen, zwischenmenschliches Fehlverhalten, das zu dieser Entscheidung geführt hat. Es fällt nicht leicht, das zu kommentieren. Einerseits muss es einer neuen Regierung ein Anliegen sein, die Umgangsformen zu überdenken, nicht zuletzt, um Konsequenzen aus dem Scheitern der letzten Regierung zu ziehen. Unabhängig davon sollte es der neuen Regierung aber auch darum gehen, in einer Zeit der verrohenden Sprache und eines zunehmend aggressiven Ver-haltens Vorbild zu sein und demokratisch unterlegtes humanistisches Gedankengut wach zu halten. Andererseits ist zu rügen, dass die Entscheidung der Grünen, sollte sie Bestand haben, parteipolitische Überlegungen in so grundsätzlich staatsrelevante Fragen einfließen lässt. Auch das, ein Ampel-Déjavu. Man kann gespannt sein, wie es weitergeht.

Fakten sind eine unverzichtbare Größe in unserem weltlichen Dasein; sie geben Orientierung in den Dimensionen des Irdischen, in Raum, Zeit und im sich entwickelnden Werden. Die Wahrheit bezieht sich auf das Leben. Durch die Wahrheit werden Fakten erst lebenswertig. Bevor wir uns weiter mit dem Verdacht des Betruges beschäftigen, sollten wir uns überlegen, was im Fortgang der Geschichte ein Höchstmaß an Dringlichkeit erreicht hat und was zur Wahrung unserer Freiheit dringend geboten ist.