Am 28. Oktober wurde unter den listigen Blicken der Moderatorin Maybritt Illner heftig über den aktuellen Stand der Corona-Pandemie diskutiert. Anwesende Gäste waren: P. Tschentscher, Erster Bürgermeister von Hamburg, B. Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, Johannes B. Kerner, Sportmoderator, Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, J. Schmidt-Chanasit, Virologe der Uni Hamburg und S. Katzenstein, Hausärztin. Jeder der Diskussionsteilnehmer sagte schließlich das, was von ihm erwartet wurde und jeder tat es in der Überzeugung, einen wesentlichen Beitrag zum allgemeinen Know-How in Sachen Pandemie geleistet zu haben. Das allseits bekannte nahm einen breiten Raum ein, indem es hin und her bewegt wurde, fachkundig untermauert und verdichtet, sodass man den Eindruck einer mit sich selbst zufriedenen Gesprächsrunde haben konnte und das unter den listigen Blicken der Moderatorin. Man übernahm die Argumentation des Vorredners, sodass man sich der allgemeinen Akzeptanz bereits sicher sein konnte, erweiterte sie marginal, jedoch mit dem Anspruch, gerade in diesem Punkt das Besondere betonen zu müssen. Jeder Beitrag mündete somit in das Bewusstsein einer allgemeinen Zustimmung und jeder behielt auf seine Weise Recht. Immerhin musste das Alleinstellungsmerkmal der eigenen Argumentation in irgend einer Weise zur Geltung gebracht werden, um sein Daseindamit zu legitimieren. So lebte die Gesprächsrunde von gegenseitig beipflichtender Aufmunterung; mit einem scharfsinnigen Schlagabtausch war nicht zu rechnen. Mag sein, dass manch kundiger Fernsehzuschauer den erfrischenden Beitrag mit Nachhaltigkeitsgarantie von Edmund Stoiber vermisst hat; man hatte vergessen, ihn einzuladen.

Erstaunlich war, zu sehen, wie lange man ein Thema hin und her bewegen kann, ohne den eigentlichen Kern des Problemsaufzugreifen. Blickt man hinüber, dorthin, wo das Corona-Problem konkret wird, nämlich auf den Intensivstationen, dann fällt einem ein dickes Problembündel auf die Füße und man kommt nicht umhin, Stellung zu beziehen. Täglich sterben in Deutschland ca.100 Patienten im Zusammenhang mit Corona. Die Liegezeit auf Intensiv hat sich im Vergleich zu 2020 deutlich verlängert, da es sich im Durchschnitt um jüngere Patienten handelt, die behandelt werden müssen. Die Konsequenz aber ist: die Betten werden knapp. Das Pflegepersonal arbeitet am Limit; nur derjenige, der diese Arbeit einzuschätzen weiß, kann nachvollziehen, dass diese körperlichen und psychischen Belastungen an die Grenzen des Erträglichen gehen. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass die üblichen Notfälle, wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Polytrauma nicht behandelt werden können, da die Plätze mit Corona-Fällen belegt sind. Das Hauptproblem aber ist zwar bekannt doch wagt man nicht, es anzusprechen, scheut man doch, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu thematisieren: Warum keine Impfpflicht?

Der Freiheitsbegriff und seine praktische Umsetzung ist unterethischen und moralischen Gesichtspunkten in unserer Gesellschaft so erfolgreich weiterentwickelt worden, dass fortan der durchaus veraltete Begriff der Bürgerpflicht als unmodern und überholt gelten kann. Es wird nun üblich, Gesellschaft als das zu definieren, was übrigbleibt, nachdem alle individuellen Sonderwünsche erfüllt sind. Gesellschaft ist das stets Lästige jenseits des Gartenzauns. Schützenswert hingegen ist der Privatbesitz und zwar unabhängig davon, wie und in welcher Weise er Verwendung findet. Irgendwann hat Irgendjemand entschieden, dass der Einzelne nicht mehr Teil der Gesellschaft ist, vielmehr dass die Gesellschaft verfügbares Übungsgelände für den Einzelnen sei. Diesen Absolutismus der persönlichen Freiheitsrechte gilt es zu respektieren. Es ist Ausdruck höchster Tugendhaftigkeit, dem Willen des Einzelnen Folge zu leisten und es gefälligst zu unterlassen ihn nach seinem Willen zu befragen. Es ist demzufolge nicht zulässig, jemanden zu befragen, ob er geimpft ist oder nicht. Erst das ist reiner Wille, der im Verborgenen wollen will!

Ist das eine Folge von Covid-19, dass verbreitet urplötzlich der Verstand aussetzt, dass die Gedanken des Grundgesetzes auf den Kopf gestellt werden, wenn der Solidaritätsbegriff wie ein Fremdwort erklärt werden muss, wenn ein Einzelner über das Wohl der Gemeinschaft entscheiden kann? Was ist passiert, dass plötzlich auch der Letzte glauben darf, ein Experte zu sein, was ist passiert, dass man versucht, jedem Verirrten ein eigenes Wohl-Fühl-Gehege zu bauen und vorsichtig anfragt, ob es erlaubt sei, ihn auf einen Denkfehler aufmerksam zu machen? Wie sind die Pocken damals besiegt worden? Doch nur dadurch, dass sich die Gesellschaft für einen kurzen Augenblick darüber einig wurde, wer ein Experte ist und wer nicht. Was hindert den Staat, was hindert die Politik daran, mit einer Impfpflicht das Leben von unzähligen Menschen zu retten? Ist denn der Wille des Einen höher einzuschätzen als das Leben des Anderen? Kaja Godek ist eine in Polen bekannte Politikerin. Ihrer Meinung nach kommt bei der Herstellung von Covid-Impfstoffen Zellmaterial von abgetriebenen Föten zum Einsatz. Deshalb ist sie gegen das Impfen. Das ist eine von unzähligen und unsäglichen Falschaussagen; man mag sie nicht Irrtum nennen, denn zumindest bei ihr ist die Absicht der bewussten Falschaussage leicht zu erkennen, nachdem sie Aktivistin ist im Kampf für ein komplettes Abtreibungsverbot und gegen die Rechte von Homosexuellen.

In solchen Fällen ist ein Austausch von Argumenten nicht hilfreich, ist doch die kognitive Bereitschaft nachhaltig gestört. Genau das ist es, was Impfgegner und Coronaleugner allesamt kennzeichnet: sie stellen keine Fragen. Unerschütterlich ist ihre Überzeugung, die sich zur Ideologie verdichtet hat. Immerhin zeigt man mit einer solchen Entscheidung, dass man eine eigene Meinung hat und diese mit Entschiedenheit nach außen zu vertreten weiß. Sie folgen damit dem Rückschluss, nach dem, wer entscheidet, auch Sachverstand haben müsse. Nach dieser Vorstellung glauben sie, mit ihrer Entscheidung auf der Seite der Wissenden zu sein. Die Überzeugung hierfür ist so groß und das Gefühl des unbestreitbaren Selbstwertes so stark, dass sie jede Bereitschaft vermissen lassen, die Richtigkeit ihrer Argumente in Frage zu stellen, zumal es keine wirklichen Argumente sind, denen sie folgen sondern pure Gefühle. Und diese Gefühle verdrängen jede Rationalität. Ihr Glaube ist stärker als das Wissen, das sie nicht haben. Es ist keine neue Erfahrung, dass sich das persönliche „Für-Wahr Halten“ oft jenseits jeder Rationalität vollzieht und dass es für Argumente nicht zugänglich ist.

So lange es sich um ganz persönliche Einstellungen handelt, wird man jedem das Recht einräumen, solche Meinungen zu vertreten und entsprechende Konsequenzen für das eigene Verhalten zu ziehen. Doch mit einiger Verwunderung stellt man fest, dass es nicht allein um den Anspruch auf die persönliche Entscheidungsfreiheit in Bezug auf das Impfen geht, sondern dass die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, mit ideologischem, ja militantem Eifer nach außen getragen wird. In Neu-Ulm bekommt ein praktischer Arzt, der das Impfen empfiehlt, Morddrohungen; in anderen Städten hört man von Brandanschlägen auf Impfzentren. Die Toleranz also, die sie für sich in Bezug auf die Entscheidungsfreiheit einfordern, kolportieren sie mit aggressiv vorgetragener Intoleranz. Im Grunde scheint es ihnen nicht um die eingeforderte Meinungsfreiheit zu gehen sondern um Protest und blinde Zerstörungswut, ein infames Dagegen-Sein, um jeden Preis.

Wie aber ist zu erklären, dass so nüchterne und einfache Sachverhalte, wie das Impfen in Zeiten der Pandemie derart ideologisch aufgeheizt werden und eine Gesellschaft so grundsätzlich aus der Bahn werfen können? Versuchen wir, uns behutsam dieser Frage anzunähern: Unter den Impfgegnern mag es viele Menschen geben, die einfach Angst haben, sich impfen zu lassen, aus welchen Gründen auch immer. Nicht nur, dass Angst die Impfbereitschaft blockiert, Angst ist auch imstande, irrationales Verhalten entstehen zu lassen und die Bereitschaft zur Übernahme kurioser Argumente zu fördern, einzig mit dem Ziel, das Angst auslösende Agens, die Impfung, zu umgehen. Mit solchen Menschen muss man sprechen, nicht versuchen, sie zu belehren, sondern sie zu verstehen. Wichtig ist, Vertrauen entstehen zu lassen. In Fällen aber, in denen sich Meinungen radikalisiert haben und mit ideologischem Eifer vertreten werden, ist ein Austausch von Argumenten nicht hilfreich, ist doch die kognitive Bereitschaft nachhaltig gestört. Aber noch andere Elemente beeinflussen das Verhalten von Menschen, die von Ängsten geplagt und verunsichert sind. Die Vorschriften, die im öffentlichen Leben einzuhalten sind, sind ihnen lästig; die allgemein geltenden Beschränkungen halten sie im besten Fall für nicht berechtigt, für nicht angemessen, im schlimmsten Fall für eine nicht zulässige Einschränkung ihrer persönlichen Grundrechte. Auf solch sensible Situationen treffen gezielte Agitationen von Radikalen und extrem rechten Politikern (AFD), die den Staat als Diktatur und Freiheitsberauber verunglimpfen und Hass und Hetze verbreiten („Der Staat habe sich rauszuhalten!“„Impfdiktatur!“ „Verfassungswidrige Freiheitsberaubung!“ So werden diese Menschen mit Gedanken geimpft, die die schließlich zerstörerische Kräfte entfalten und die vermeintliche Legitimation vermitteln, sich mit allen Mitteln gegen diesen Staat zur Wehr zu setzen.
(Am Anfang stand die Angst, am Ende die Krankheit. – Angst ist stets ein Ausdruck für verloren gegangenes Vertrauen.)

So gibt es nun zwei Lager in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite die Unbelehrbaren, die argumentativ nicht Erreichbaren, die „Querdenker“, die sich konsequent gegen das Impfen wehren, auf der anderen Seite die Unbelehrbaren, die argumentativ nicht Erreichbaren, die Politiker, die sich konsequent für die persönlichen Freiheitsrechte einsetzen, dies im Wahlkampf werbend vertreten und koste es was es wolle jedes Impfen als Pflicht ablehnen. Hat der Staat das Recht, sich über hunderte von Menschenleben hinwegzusetzen, um dem „Freiheitswillen“ von Wenigen entgegenzukommen? Es ist im Zusammenhang mit der Pandemie viel von Solidarität die Rede, von einem Handeln, das über die Zielsetzung der Zufriedenstellung eigener Bedürfnisse das Gemeinwohl im Auge behält. Neben der zentralen Markierung menschlicher Würde ist im Grundgesetz von Rechten und Pflichten die Rede. In einer Zeit überhöhter Eigenansprüche und eines verstärkten Ich-Bewusstseins geraten die Pflichten eher in den Hintergrund, denn schließlich resultieren die Pflichten aus den Rechten der Anderen. Das konkurrierende Handeln tritt mehr und mehr an die Stelle des solidarischen Handelns. Der Begriff der Bürgerpflicht scheint obsolet zu sein. Man wird darüber nachdenken müssen, inwieweit diese Denkart Folge einer missverstandenen Freiheit ist oder ob ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allem, was staatliche Verordnung vermuten lässt. Nun wäre es unklug und nicht ratsam, mitten im „Spiel“ die Spielregeln zu ändern. Es wäre aber gut, einzusehen, dass es ein Fehler war, diese ethische Grundsatzfrage nicht so zu behandeln, wie es nach wissenschaftlichen und moralischen Gesichtspunkten erforderlich gewesen wäre. Wissenschaft und Moral sind keine Angelegenheiten, die auf dem Marktplatz zu handeln sind!

Nachdem es nun ist wie es ist, müssen die in unserer Gesellschaft entstandenen Lager anders beschrieben werden: Auf der einen Seite die Unbelehrbaren, auf der anderen Seite die Leidtragenden. Wir haben eine Situation, dass Akut-Kranke nicht mehr behandelt werden können, wie es ihre Krankheit verlangte. Die Politik hat versäumt, den Freiheitsbegriff sinngebend zu deuten und ihn nicht dem Freiraum von Eigenwillen und Willkür auszuliefern. Die Politik hat sich verführen lassen, Freiheit als eines der wertvollsten Güter, billig auf dem Markt anzubieten, statt dieses Gut sorgsam vor Missbrauch zu schützen.

Noch ein klärendes Wort zur viel beschworenen Mündigkeit. Zu fragen ist, ob derjenige mündig ist, der über alles selbst entscheiden kann. Mündigkeit ist nicht gleichzusetzen mit Kompetenz. Kompetenz ist nicht angeboren; man muss sie sich erwerben. Respekt ist geboten demgegenüber, der sie hat! Mündigkeit bedeutet, einzusehen, dass man nicht alles selbst entscheiden kann. Das heißt: Der Mündige kennt die Grenzen, jenseits derer er nicht allein entscheiden kann (Steuerberater, KFZ-Mechaniker, Ingenieur, Statiker als Beispiele). Der wirklich mündige Mensch weiß die in Anspruch genommene Kompetenz durchaus zu schätzen.