Morgen soll eine neue Regierung und mit Friedrich Merz ein neuer Bundeskanzler gewählt werden. Es sind so viele Probleme, die zurecht als Ballast empfunden werden, die bei diesem Neubeginn die Erwartungen vonseiten der Bevölkerung ins Unermessliche steigen lassen. Andererseits ist Skepsis spürbar angesichts der Ausweglosigkeit, die sich in viele Probleme verhängnisvoll einschleicht. Doch es ist nicht ganz klar, sind es die Probleme, die bleiern und lähmend die allgemeine Stimmung belasten oder ist es die Gesellschaft, die sich überfordert sieht, die Schwierigkeiten hat, sich in dem qualvollen Auf und Ab der politischen Ereignisse zurecht zu finden. Es hat den Anschein, als ob sie den Boden unter den Füßen und gleichermaßen die Orientierung verloren hätte, Die gesichert rechts extremistische Partei, die AfD, gewinnt einen immer größeren Einfluss, während gleichzeitig ein verhängnisvoller Trend der Verharmlosung des Nationalsozialismus zu beobachten ist. Die zentrale Bedeutung der Menschenwürde steht ganz offensichtlich nicht mehr im Mittelpunkt des öffentlichen Bewusstseins, so ist ein immer größerer Mangel an gegenseitigem Respekt zu beklagen, während die Aggressivität und der Hass immer weiter zunehmen. Es schwindet offensichtlich die Sensibilität für das Gemeinwesen, für die Zusammengehörigkeit, für die staatstragende Verantwortung eines jeden Einzelnen. Es ist zu beobachten, dass sich der Einzelne immer mehr aus der Gemeinschaft löst, sich von ihr abwendet und sich nur noch protestierend mit ihr auseinandersetzt. Es ist eine innere Abwehr zu allem, was Staat bedeutet, entstanden mit dem Bedürfnis frei und unabhängig zu sein. So definiert sich der Freiheitsbegriff zwar nicht neu, doch in einer Form, die immer zersetzender breite Gesellschaftsschichten erfasst. Es ist ein auf das ICH zugespitzter Freiheitsbegriff, der sich am Anfang als reine Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit präsentiert, im weiteren dann zu Regelwidrigkeiten verleitet, sei’s im Straßenverkehr oder im sonstigen Gemeinschaftsleben, schließlich aber als eine Denkweise zutage tritt, die den Staat selbst als zutiefst störend empfindet. Es gibt Menschen, die wollen ihn brennen sehen, allein schon, weil ihnen die Rente nicht ausreicht.

Dieses Zerrbild der Freiheit liegt wie eine trübe Nebelwand über dem Land. Die ohnehin bestehende Orientierungsnot verstärkt sich durch eine regierungsbedingte Führungs-schwäche, durch eine rezessive Wirtschaftsentwicklung, durch um sich greifende Zukunfts-ängste und durch populistische Quertreibereien von Menschen, die sich nichts anderes wünschen als eben den Staat brennen zu sehen. In dieser volatilen Zeit nun verlangt der Krieg in der Ukraine nach einer Antwort. Es wurde alles bereits gesagt und immer wieder mit großer Ernsthaftigkeit beteuert: „Der völkerrechtswidrige Krieg zerstört die europäische Friedensordnung“. Dieser Gedanke allein schon rechtfertigt die Frage, wie Europa reagieren soll, zumal von einer Zeitenwende die Rede ist. Weitere Aussagen sind nicht weniger bedeutend. „Die Menschen in der Ukraine kämpfen auch für unsere Freiheit.“ „Auch unsere Freiheit ist bedroht:“ „Russland darf den Krieg nicht gewinnen!“ Diese Sätze fielen nicht beiläufig, sondern wurden mit der Entschiedenheit einer eindeutigen politischen Zielsetzung geäußert. Aber es blieben Worte, die in der Selbstgefälligkeit politischer Redekunst versan-deten. Einigkeit scheint darin zu bestehen, dass unsere Freiheit bedroht ist, Einigkeit auch in der Beurteilung des russischen Angriffskrieges als einen perfiden Angriff auf die westlichen Demokratien, auf das Demokratieverständnis schlecht hin. Weithin wird die Überzeugung geteilt, dass gehandelt werden müsse, und zwar mit dem Ziel, die Ukraine bei ihrer Abwehr gegen die Aggression zu unterstützen. Diese Hilfe begann zögerlich, war man sich doch lange nicht im Klaren, wie eine solche Hilfe aussehen kann und welche Möglichkeiten man hat angesichts kläglicher Eigenbestände. Wie groß die anfängliche Unbeholfenheit war, zeigt sich in dem geradezu lächerlichen Angebot von 5000 Helmen. Lange diskutierte man, ob es ratsam ist, Panzer zu liefern. Wie würde das Putin verstehen? Immer wieder wurden große Vorbehalte geltend gemacht und es dauerte lang, bis man bereit war 6 Panzerhaubitzen zur Verfügung zu stellen. Man hoffte, dass diese militärische Unterstützung Putin nicht zu einer weiteren Eskalation bewegen würde, zumal in seiner Rhetorik schon einmal der Gedanke an die Atomwaffe aufblitzte. Angesichts dieser Vorgehensweise muss man sich rückversichern: wie ernst wurde die Bedrohung der Freiheit wahrgenommen? Waren es nur Worte oder ist die Bedrohung real Das politische Handeln folgte ausschließlich dem Ziel, noch Schlimmeres zu verhindern bzw., um es noch klarer zu sagen, war ausschließlich daraufhin ausgerichtet, den Krieg bzw. jede Möglichkeit eines militärischen Eingreifens von uns fern zu halten. Diese Zielsetzung ist legitim, die Frage ist nur, ob sie auch schlüssig und sachdienlich ist. Es hat etwas Befremdliches, zu sagen: „Unsere Freiheit ist bedroht“ und gleichzeitig beruhigt festzustellen: „Die Menschen in der Ukraine kämpfen auch für unsere Freiheit.“ Lohnt es sich, für die Freiheit zu kämpfen? Diese Frage blieb während der drei jahrelangen Kriegszeit unbeantwortet; sie wurde nicht einmal gestellt!

Die moderne Technik und mutige Journalisten vor Ort machen es möglich, das mörderische und zerstörende Kriegsgeschehen aus der Geborgenheit des Wohnzimmers heraus mitzu- erleben. Das Unerträgliche der aufgehobenen Distanz überspielen wir mit der Betonung und Intensivierung unserer unmittelbaren Bedürfnisse in einer von eigenen Wunschbildern verdichteten „Gegenwelt“. Die in den zurückliegenden Jahren so selbstverständlich erlebte Freiheit ist gleichsam als unauslöschbarer Erfahrungswert Bestandteil dieser „Gegenwelt“. Die Bedrohung, die zweifellos besteht und die bei nüchterner Überlegung auch als solche erkannt wird, verliert in dieser weichgezeichneten Realität ihre existenzbedrohende Wirkung. Obwohl die modernen Informationstechnologien ständig dabei sind, Angst und Schrecken von Krieg, Diktatur und Unfreiheit in Dokumentationen, historischen Beiträgen und politischen Kommentaren der heutigen Zeit näher zu bringen, bleibt für viele der Begriff der Bedrohung unscharf, unkonkret, nicht in die Jetztzeit hinein denkbar. Im Gegensatz zu einfachen Menschen, denen durchaus zugebilligt wird, Probleme nicht zu erkennen, sie zu ignorieren oder falsch einzuschätzen, sollten Politiker im Bewusstsein ihrer Verantwortung zwei Dinge grundsätzlich beachten: Klarheit, Eindeutigkeit, Verstehbarkeit, das ist das eine, Übereinstimmung von Wort und Tat, das andere.

Wenn die Notwendigkeit gesehen wird, die Ukraine militärisch zu unterstützen, dann kann man sich nicht mit der Floskel zufrieden geben, der größte Unterstützer zu sein, ohne über Sinn und Wert der unterstützenden Maßnahmen nachzudenken. Zum Erfolg führte die Hilfe nicht, entscheidende Waffen hielt man zurück, die beigesteuerten Mittel führten lediglich dazu, den Krieg und das Sterben fortzusetzen. Erfolgreich durfte die Hilfe ohnehin nicht sein, weil man fürchtete Putin zu verärgern. So blieb die Frage, ob wir die Freiheit und die Demokratie verteidigen müssen, stets unbeantwortet. Die Frage also, ob wir handeln müssen, war immer weniger wichtig als die Frage, was Putin tun würde. Es war die Angst, die den Blick auf die Freiheit trübte. Die Politik versucht sich nun aus der Affäre zu ziehen, indem mit demonstrierter Entschiedenheit aufgerüstet wird. Die dahinter stehenden Überlegungen sind durchaus plausibel, denn ein Wort, auch das Wort im Zusammenhang mit diplo-matischen Bemühungen, zählt nur, wenn es Gewicht hat. Eine Aufrüstung allein kann nicht überzeugen, denn Maschinen stehen still, wenn sie nicht bewegt werden; auch nicht der Wille allein kann nichts bewirken, wenn er nicht bereit ist, Opfer zu bringen und dabei keine existenzielle Notwendigkeit sieht, zu handeln und eben opferbereit zu sein. Zu keiner Zeit hat es die Regierung vermocht, eine eindeutige Stellung zu beziehen. Die Angst hat die Freiheit verdrängt, noch ehe sie uns droht, genommen zu werden. Die Leichtfertigkeit im Umgang mit der Freiheit wird der Grund sein, sie zu verlieren, wenn wir nicht einsichtig werden.