So war es gesagt und auch gemeint: die begründungsfreie Unterstützung des Staates Israel zur Sicherung seiner Existenz. Im Übereifer eines Treueversprechens wurde versichert, dass Deutschland untrennbar an der Seite des israelischen Staates steht. Dieses Treuegelübde gilt also dem Staat; die Schuld aber, die zu diesem Gelübde Anlass gab, resultierte aus millionenfachem Mord an Menschen. Das eine ist der Staat, das andere sind die Menschen. Hier scheint das Problem zu liegen. Der Staat, dem begründungsfreie Treue versprochen wurde, ist nun seinerseits dabei, Menschen zu verachten, zu quälen und zu morden. Unter anderem ist es Deutschland, das dazu die notwendigen Waffen liefert. Es muss genauer präzisiert werden, was gemeint ist und was gesagt wird.

Der 7.Oktober war für Israel die Hölle und nicht zuletzt für diejenigen Menschen, die zufällig an diesem unschuldigen, friedlichen Musikfestival teilgenommen hatten. Das entstandene Leid an diesem Tag sprengt jedes Vorstellungsvermögen. Israel hat nicht nur das Recht, sich zu wehren, sondern auch die Pflicht, seine Bürger zu schützen. Der Einsatz aller möglichen, auch militärischen Mittel ist angesichts der Bedrohung aus dem Süden (Hamas), aus dem Norden (Hisbollah), aus dem Osten (Iran, Huthi-Rebellen) geboten. Zweifellos rechtfertigt dies die militärische Unterstützung mit der Lieferung von Waffen. Der Staat Israel ist völkerrechtlich ge- und begründet und Deutschland trägt zweifellos eine besondere Verantwortung für die Existenz dieses Staates. Dazu ist es wichtig, sich die knapp 80 Jahre zurückliegender Geschichte zu vergegenwärtigen, in denen die Existenz des israelischen Staates immer wieder bedroht und gefährdet war.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass auch die Existenz eines palästinensischen Staates völkerrechtlich ausgewiesen und begründet ist. Es ist nicht einfach, sich in die gegen- und wechselseitigen, emotionalen und politischen Auseinandersetzungen und Anfeindungen zwischen Israeli und Palästinensern der letzten Jahrzehnte einzudenken und beiden Seiten gerecht zu werden. Jeder Vorgang erfordert die Fairness des Verstehens und des Mitfühlens sowie die Einordnung in geschichtliche Entwicklungen. Wer sich dem entzieht, vergeht sich an der Geschichte und verletzt den Wahrheitsgehalt seiner politischen Stellungnahme. Zur Wahrheit gehört, dass der 7. Oktober nicht der Beginn der Feindseligkeiten zwischen der Hamas und den Israeli war; schon lange war der Gazastreifen Ausgangspunkt von organisierter Aggression und gezieltem Terror vonseiten der Hamas und schon lange gab es in Israel Überlegungen hinsichtlich einer Besetzung zumindest aber einer israelischen Verwaltung, wie sie schon einmal 1956 vier Monate lang bestanden hat. Die Palästinenser erinnern sich sehr ungern an diese Zeit.

Im Übrigen hintertreibt die israelische Regierung seit Jahren die Gründung eines palästinensischen Staates, nicht zuletzt durch eine völkerrechtswidrige Siedlungspolitik im Westjordanland. Es ist richtig, dass unter der Führung des Iran immer wieder mit schäbigster Agitation das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wurde und wird und dass die Kriege während der vergangenen 80 Jahre aus israelischer Sicht stets unter dem Aspekt des Existenzwahrung geführt wurden. Nicht nur, dass sich Israel jedes Mal mit deutlichen Gebietsgewinnen durchsetzen konnte, es erreichte auch trotz großer Anstrengungen und Opfern mit jedem Waffengang eine Stärkung seiner politischen und militärischen Position. Inzwischen ist Israel zweifellos die stärkste militärische Macht in dieser Region. Auch wenn Israel immer wieder bedroht und feinselig angegangen wird, von einer Bedrohung seiner Existenz kann man wohl nicht mehr sprechen.

Auch im gesellschaftlichen Leben behalten physikalische Gesetze ihre Gültigkeit. Geläufig ist jedem das Gesetz von „actio gleich reactio“. Weniger geläufig dürfte das Gesetz vom „Energieerhalt in einem geschlossenen System“ sein. Ein weiteres Gesetz befasst sich mit der plötzlichen Freisetzung von Energie, nachdem sie sich über lange Zeit angestaut hat. Jeder von uns weiß aus Beobachtung oder eigener Erfahrung, wie sich diese Gesetze im Alltag -im Kleinen wie im Großen – realisieren. Etwa so: Ich sitze am Abend beim Schein einer Kerze und lese ein Buch. In voller Glückseligkeit genieße ich die Ruhe und konzentriere mich auf den Hergang der Erzählung. Wie aus dem Nichts plötzlich das eintönige Summen, mal entfernt, mal in bedrohlicher Nähe. Mit einem beiläufigen Wischen versucht man, sich Ruhe zu verschaffen; es gelingt auch – für einen Augenblick, bis zum nächsten Angriff aus dem Hinterhalt vermeintlicher Ruhe. Die Angriffe werden häufiger, hinterhältiger, persönlicher, bis der Geduldfaden reißt. Man schlägt zu. Ein kleines Leben hat sein Ende erfahren.

Oder so:
Es ist jeden Abend das gleiche: Die Vorfreude auf den Feierabend, die Ruhe, das Bier und der Fußball. Die Gewohnheiten fühlen sich gut an. Kaum nimmt man ihn noch wahr, den gedeckten Tisch, das täglich schon bereitstehende Abendessen und das Sich-Fallen-Lassen in die Kissen häuslicher Bequemlichkeit. Die Füße hoch, den Fernseher an und die Welt, die allein mir gehört, beginnt. Es ist das Hoheitsgefühl über Raum und Zeit, das glücklich macht; man glaubt, einen Anspruch darauf zu haben, jedoch: Geräusche aus der Küche irritieren; die Lust am Hoheitsgefühl ist größer als die Einsicht, dass in der Küche noch aufgeräumt werden muss. Irgendwann verlagern sich die Störgeräusche ins Nebenzimmer und gerade jetzt fordern entscheidende Spielmomente ganze Aufmerksamkeit. Mehrere Aufforderungen, endlich ruhig zu sein, werden offensichtlich nicht gehört, oder bewusst überhört? In der zunehmenden Spannung kollidieren irgendwann das Selbstverständnis der in Anspruch genommenen Welt und die Belange der häuslichen Wirklichkeit. In der sich anbahnenden Auseinandersetzung – erst laut, dann aber handgreiflich – fordert die eigene Überlegenheit ihr Recht. Das anfängliche Gereizt-Sein endet schließlich im erbärmlichen Recht-Behalten im Chaos der Scherben. Der Frieden ist vertrieben, die gesuchte Häuslichkeit verflogen.

Oder so:
„Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes; und Abel brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer. Aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und seine Gebärde verstellte sich. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Tür und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. So redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruder Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“

Die Wahrheit schreibt sich schwer. Es ist die Hölle, wenn sich aufgestauter Hass entlädt. Auch die Entwicklung dieser Tage zeigt, wie Hass entsteht, wie die Verneinung und Verweigerung der Menschlichkeit die Welt empört und mit Unverständnis zur Kenntnis nimmt. Heute morgen wurde ein israelischer Bürger am Grenzzaun zum Gazastreifen interviewt, er zeigte auf das weite Gebiet des Gaza und sagte, man sollte sie alle töten! Auf die Frage, auch Frauen und Kinder? Antwortete er ruhig und bestimmt: „Sehen Sie, aus jedem Kind dort wird ein Mörder!“ Freilich, das ist nur eine Stimme; zu bedenken ist aber auch, dass 82% der israelischen Bevölkerung dafür sind, den Gazastreifen konsequent zu räumen (zu reinigen, wie es Trump ausdrückt). Zur gleichen Zeit erteilt die israelische Regierung die Erlaubnis für die völkerrechtswidrige Gründung weiterer Siedlungen im Westjordanland. Erklärt der furchtbare, zweifellos vorhandene Antisemitismus allein schon die Empörung der Welt? Ich höre die Stimme von Margot Friedländer: „Seid Menschen!“ Ich höre die Worte, als hörte ich sie aus weiter Ferne.

Immer wieder wird die Frage gestellt, wie der Konflikt zwischen Israel und den Palestinensern gelöst werden könnte. Die Situation ist verhärtet; die Herzen auf beiden Seiten nicht mehr erreichbar. Die Gefühlswelten sind eingefroren, sind starr und unbeweglich und nur noch stärkstes Aufbegehren, wie das Töten und Morden, vermag etwas zu bewegen, vermag das Eis zu sprengen. Aber auch das schafft nur weitere Kälte bis die Seele in den Anstrengungen, Recht behalten zu wollen, erstickt. Der gegen das Recht durch den Stärkeren erzwungene „Frieden“ ist kein wirklicher Frieden, der dem Menschen die Möglichkeit gibt, er selbst zu sein, Zu bedenken ist, dass der Stärkere stets größere Verantwortung trägt als der Schwache; er allein vermag es, auf Gewalt zu verzichten und Frieden zu organisieren und Frieden zu sichern. Auch die Staatsräson ist nur eine versteinerte, seelenlose Floskel, solange in ihr nicht die Stimme nachklingt: „Seid Menschen!“ Denn nur in der Menschlichkeit, nur in der Menschenliebe kann die Lösung liegen für ein friedliches Zusammenleben. Wenn dem Menschen Recht getan, dann erst blüht der Staat. Wer allein dem Staat huldigt, läuft Gefahr den Menschen zu vergessen.